Asylon
und Saïna
ihm dann die Bürotür öffnen musste. Für ihre Hausmeistertätigkeiten brauchte
sie so einen Schlüssel, denn sie musste allzu häufig in die Büros, wenn niemand
darin Dienst versah.
Diesmal aber war es anders.
Es mochte schon spät sein, aber
noch nicht so spät, dass im Trakt der Ärztebüros niemand mehr unterwegs war.
Saïna lauschte auf mögliche Schritte, bevor sie die Klinke drückte und die Tür
aufstieß. Im Moment war alles ruhig.
»Dr. Grosse« stand in großen
schwarzen Buchstaben auf der Milchglasscheibe. Nicht gerade ein Mann, mit dem
man sich anlegen sollte, aber was half’s? Sie hatte die Aufzeichnungen der
Videoüberwachung aus jener Nacht studiert, in der sie Torns Frau begegnet war.
Sie war in diesem Büro verschwunden. Leider war die Aufzeichnung zehn Minuten
danach auf eine andere Kamera umgesprungen, sodass Saïna ihren Weg nicht hatte
weiterverfolgen können.
Wiederum spitzte sie die Ohren,
schaute sich noch einmal im Gang um, dann drückte sie sanft, aber entschlossen
die Klinke nach unten und verschwand rasch in dem Raum hinter der Tür. Die Luft
im Zimmer war abgestanden und warm. Sie schloss die Tür von innen wieder ab.
Sie nahm das Zimmer in
Augenschein. Durch das Milchglasfenster in der oberen Hälfte der Tür schimmerte
die Flurbeleuchtung herein.
Schritte!
Instinktiv stellte sie sich neben
die Tür und presste sich flach gegen die Wand.
Die Schritte kamen näher.
Ein Schatten fiel auf das
Milchglas.
Der Schatten zog vorüber. Die
Schritte entfernten sich wieder. Saïna atmete tief durch.
Warum tue ich
mir das an? Es ist nicht mein Problem, sondern seins, sagte sie sich zum dutzendsten Mal.
Doch das änderte nichts an der
Neugier, die an ihr nagte, seit sie die Fotos in seinem Apartment gesehen und
darauf die Verwirrte aus dem Krankenhaus erkannt hatte. Da musste es
irgendeinen Zusammenhang geben.
Der Typ findet
Lynn an der Grenze. Am selben Tag stirbt sein Kind und kurze Zeit später und
unter mysteriösen Umständen seine Frau, kurz nachdem ich sie getroffen habe.
Und sie suchte nach ihrem toten Kind. Nach ihrem angeblich toten Kind. Da muss es eine Verbindung geben, irgendetwas muss
dahinterstecken, das all dem einen Sinn gibt . Also
tue ich das nicht für ihn, sondern für Lynn.
Die Wände des Büros wurden von
alten Holzregalen verdeckt, die vor Akten überquollen.
Wo soll ich
nur anfangen?, fragte sie sich.
Ihr Blick fiel auf den Rechner.
Das kleine Schreibpult daneben war gerade groß genug für den Bildschirm und die
Tastatur. Sie setzte sich auf den Schreibtischstuhl und nahm das Gerät in Betrieb.
Brummend erwachte die Elektronik zum Leben. Grüne Befehlszeilen flossen über
den Bildschirm.
Saïna überlegte kurz. Dann ließ
sie sich eine Übersicht über jene Dateien geben, an denen Grosse seit dem Tod
von Lynn gearbeitet hatte. Sechsundachtzig Vermerke. Sie begann die Liste
durchzuforsten, ohne irgendeine Idee, wonach sie suchte. Manche Dateinamen
waren selbsterklärend – »Bestellung neue dialyse« oder »Kündigung mayfield«.
Manche waren nur kryptische Buchstaben-Zahlen-Kombinationen. Ihr Mut sank, während
sie die Kolonne über den Bildschirm scrollte.
Woher weiß
ich, dass das, was ich suche, auf dem Rechner ist? Vielleicht ist es in den
Akten oder wo auch immer.
Während ihr diese und ähnliche
Gedanken durch den Kopf gingen, las sie die weiteren Dateinamen:
Paraplegiker gutachten
Perikarditis Mr Dorner
Perk23x10
Persephone
PTSD brinks
Stopp!
Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit
erregt. Sie ging die letzten Einträge noch einmal durch. Dann fiel es ihr auf.
Eine Datei namens »Persephone«. Nicht nur, dass die Bezeichnung in Grosses
Nomenklatur eher ungewöhnlich erschien, sie rief auch eine vage Erinnerung an
ihre frühe Schulzeit lange vor dem Surge wach. Ein Kurs in griechischer
Mythologie. Persephone war die Göttin der Unterwelt, Gemahlin des Hades. Aber
sie war nicht freiwillig zu ihm gekommen. Hades hatte sie ihrem Vater Zeus im
Kindesalter entführt.
Kindesentführung!
Genau das war es, was die
verwirrte Frau behauptet hatte. Sie hatte gesagt, man hätte ihr das Kind weggenommen.
Saïna öffnete die Datei.
Eine Passwortabfrage erschien.
Saïna seufzte. Damit war zu
rechnen gewesen. Sie probierte es mit seinem Namen, mit der Stationsbezeichnung
und ähnlich Naheliegendem. Alles ohne Erfolg. Dann kam ihr eine Idee.
»Hades«, tippte sie.
Nichts.
Verdammt, denk
nach!
»Pluto«.
Wieder nichts. Sie begann
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