Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Asylon

Asylon

Titel: Asylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Elbel
Vom Netzwerk:
grauenvoller Anblick bot. Irgendwie musste es
der kleine Mann geschafft haben, lebendig von der Bühne herunterzukommen, denn
auf einmal war er über ihr. Das heißt, er hing kopfüber von der Decke, wie eine
übergroße Fledermaus, während die seltsame Klaue an seiner Hand schmatzend in
dem wühlte, was von Ishihada-Sans Hals noch übrig war. Mit einem furchtbaren
Ruck riss ihm der Angreifer den Kehlkopf heraus. Der schwere Körper des
Japaners sackte neben Saïna zusammen.
    Über ihr vereinigte sich das
Krachen der Schüsse zu einer höllischen Sinfonie. Saïna spürte, wie ihre Zähne
unkontrolliert aufeinander schlugen.
    Warum pflücken
die den Typen nicht von der Decke?, fragte sie sich verzweifelt.
    Intuitiv wandte sie den Blick zur
Tür. Sie unterdrückte einen Schrei. Eine Flut von Männern quoll durch die
Öffnung und verteilte sich von dort aus mit insektenhafter Geschicklichkeit
über Decke und Wände des Raums. Aus ihren Klauen erwiderten großkalibrige
Spezialwaffen das Feuer der Japaner. Saïna sah, wie ein unbeteiligter Gast an
einem der Nebentische von einer Geschossgarbe förmlich an die Wand genagelt
wurde, als er in dem allgemeinen Getümmel versuchte, den Raum zu verlassen. Im
Herabrutschen hinterließ er eine hässliche rote Schleifspur auf dem weißen
Plüsch.
    Saïna biss die Zähne zusammen und
robbte auf die nächste Nische zu, aus der ihr das freigelegte Gebiss einer Frau
entgegengrinste, der ein Geschoss das halbe Gesicht weggesprengt hatte. Sie war
ein hübsches junges Ding mit langen blonden Haaren, einer Stupsnase und einem
mädchenhaften Lächeln gewesen. Nun hatte sich ihr Gesicht in diese grauenhafte
Schreckensfratze verwandelt.
    Über und um Saïna schien die Welt
nur noch aus dem Krachen der Waffen und den Schreien der Getroffenen zu
bestehen.
    Ihre Hand tastete eine warme
Feuchtigkeit. Sie zwang sich, nicht hinzusehen, und schluckte den sauren Geschmack
der aufsteigenden Übelkeit hinunter, während sie fast panisch vor Angst und
Ekel über den Körper der Frau hinwegstrampelte. Innerlich betete sie, dass Radu
bereits einen sicheren Weg nach draußen gefunden hatte. Immer noch konnte sie
ihre Freundin nirgends in dem Chaos ausmachen.
    Die Tür zum grünen Zimmer war mittlerweile
kaum noch zwei Mannslängen von ihr entfernt. Aber vor ihr versperrten gleich
drei übereinander liegende Leichen den Weg. Saïna beschloss, alles auf eine
Karte zu setzen. Sie sah sich kurz um. Die meisten Japaner lagen durchsiebt auf
dem Boden. Zwei Überlebende hatten sich hinter einem umgeworfenen Tisch
verschanzt. Mit ihren Pistolen hielten sie sich die Angreifer, die sie aus
allen erdenklichen Winkeln beharkten, mehr schlecht als recht vom Leib. Kaum
einer der anderen Gäste in dem Raum hatte den Kugelhagel unbeschadet
überstanden. Hinter der Theke war niemand mehr zu sehen.
    Antonio – die
Verabredung!, schoss es Saïna durch den Kopf, doch das war in diesem
Moment mehr als zweitrangig.
    Sie spannte die Muskeln an,
sprang auf und stürzte los.
    Mit einem Satz war sie über die
drei Leichen. Ein zweiter trug sie durch das Viereck des Eingangs. Der letzte
würde sie aus der Schusslinie und in Sicherheit bringen. Sie stieß sich mit
aller Kraft ab. Schmerz schnitt durch ihr Fußgelenk.
    Ein Schatten glitt vor ihr herab.
    Hart prallte sie in eine dunkle
Masse.
    Sie wurde zurückgeschleudert,
stolperte nach hinten und knallte mit dem Hinterkopf gegen die Wand.
    Für eine Sekunde verschwamm ihr
Blick.
    Dann nahm der dunkle Schatten vor
ihr Gestalt an.
    Der Mann von der Bühne …
    Er lächelte, streckte den Arm
nach ihr aus. Aus seiner Klaue ragte der Lauf einer Schusswaffe, wie Saïna sie
noch nie gesehen hatte.
    Sie wusste, dass es vorbei war,
und schloss die Augen.
    Poosah!
    Radu würde sich um sie kümmern
müssen, falls sie davongekommen war. Irgendwo in einer anderen Welt ertönte ein
splitterndes Krachen, und jemand heulte schmerzerfüllt auf. Dann ein dumpfes
Geräusch, mit dem etwas Schweres auf den Boden aufschlug.
    Wo blieb die Kugel?
    »Mach die Augen auf?«
    Was?
    »Jetzt komm schon! Wir haben
keine Zeit für so was!«
    Sie öffnete die Augen. Vor ihrem
Gesicht schwebte eine Hand. Ihr Blick glitt an dem weißen Arm entlang zu seinem
Besitzer.
    Der Kellner. Antonio.
    Verwirrt ergriff sie die Hand.
    Bin ich schon
tot?
    Der Schmerz eines leicht
verstauchten Fußgelenks belehrte sie eines Besseren. Sie quälte sich auf. Links
vor ihr lag der Mann von der Bühne. Blut lief ihm über die Stirn.

Weitere Kostenlose Bücher