@ E.R.O.S.
Tür hinter sich.
Brahmas Stimme lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm.
MAXWELL>
Erin?
ERIN>
Tut mir leid. Gerade war der Zeitungsbote da.
MAXWELL>
Aha. Du verfolgst die aktuellen Ereignisse?
ERIN>
Nein, die Todesanzeigen.
Das stimmte. Zweimal während unseres Zwischenspiels in Chicago hatte Erin im Bett gesessen, die Todesanzeigen in der Tribune laut vorgelesen und sich haarsträubende Geschichten einfallen lassen, die angeblich hinter den harmlosen Lebensdaten der Reichen und Berühmten steckten.
MAXWELL>
Die Todesanzeigen?
ERIN>
Ich bin exzentrisch.
MAXWELL>
Du interessierst dich für die Umstände von Karin Wheats Tod?
ERIN>
Ich habe kaum mitgekriegt, worüber sie sprachen, bevor du mich hierher eingeladen hast. Aber es kommt mir sehr interessant vor. Ihre Todesumstände klangen so blutrünstig.
MAXWELL>
Das war bestimmt übertrieben. Die Presse verdient ihr Geld damit, indem sie den Lüsternen und Morbiden allzu sehr entgegenkommt. Ich hatte gehofft, wir könnten das Gespräch von gestern abend fortsetzen.
ERIN>
Ich bin das geistige Klingenkreuzen auf diesem Netzwerk leid. Das ist alles so kindisch.
MAXWELL>
Was verlangst du von
EROS
?
ERIN>
Ich habe dir doch gesagt, ich suche nach jemandem.
MAXWELL>
Nach dem Mann mit der Seele einer Frau?
ERIN>
So habe ich es gestern abend genannt. Es ist aber nicht so klar umrissen. Ich habe nur irgendeine Sehnsucht.
MAXWELL>
Meinst du damit, daß du diese Person finden und dich dann im richtigen Leben mit ihr treffen willst?
ERIN>
Warum nicht?
MAXWELL>
Die meisten haben Angst, richtige Informationen über sich ins Netz zu übertragen. Das könnte eine kluge Vorsichtsmaßnahme sein. Die Welt ist voller geistig gestörter Menschen.
ERIN>
Was das betrifft, bin ich ziemlich pragmatisch. Wenn meine Zeit abgelaufen ist, kann ich wohl sowieso nichts dagegen tun. Bis dahin möchte ich alles genießen.
MAXWELL>
Glaubst du an Vorsehung?
ERIN>
Nein. An Schicksal.
MAXWELL>
Wo liegt da der Unterschied?
ERIN>
Ich weiß es nicht genau. Vielleicht nur im Grad. Bei der Vorsehung ist alles von Anfang an festgelegt. Beim Schicksal weben diese Damen da oben fleißig, aber man hat eine gewisse Möglichkeit, die Fäden zu verheddern.
MAXWELL>
Ja? Und der Tod?
ERIN>
Na ja, ich meine, man kann die Fäden in gewisser Weise verheddern, aber die _Länge_ des Fadens ist von Anfang an vorgegeben.
MAXWELL>
Wie interessant. Kennst du dich mit Mythologie aus?
ERIN>
Eine flüchtige Bekanntschaft. Und du?
MAXWELL>
Das gesamte Leben ist Mythos, wenn man es aus der richtigen Perspektive sieht.
ERIN>
Wie du meinst. Du bist ja angeblich das Genie.
MAXWELL>
Bitte vergiß das. Ein kleines Fingerschnipsen des Egos. Bei unserem letzten Gespräch hast du gesagt, du hättest keine Hemmungen. Als ob du keine Scham kennen würdest.
ERIN>
Ich kenne Scham.
MAXWELL>
Welcher Handlung in deinem Leben schämst du dich am meisten?
Déjà-vu prickelte über meinen Nacken und die Arme. Einen Augenblick lang sah ich Arthur Lenz hinter seinem Computer in Virginia sitzen, wie er genauso leicht vorgab »Maxwell« zu sein, wie er vorgegeben hatte, »Lilith« zu sein. Dann fiel mir ein, daß Lenz Brahma dieselbe typische Psychiaterfrage gestellt hatte. Vielleicht wiederholte Brahma diese Frage lediglich, ob nun bewußt oder nicht. Vielleicht hatte Lenz eine stärkere Reaktion bei ihm hervorgerufen, als ich gedacht hatte.
ERIN>
Würdest du diese Frage auch mir beantworten?
MAXWELL>
Ja. Ich habe niemals eine Tat begangen, für die ich Bedauern empfand. Das gesamte Leben ist Erkundung, daher sind alle Taten gerechtfertigt.
ERIN>
Dieser Ansicht bin ich nicht.
MAXWELL>
Ah. Du glaubst an die Sünde?
ERIN>
Darüber weiß ich nichts. Aber es gibt ganz bestimmt falsche Entscheidungen, die man getroffen hat.
MAXWELL>
Nein, nur schlechte Entscheidungen. Und die auch nur aus der jeweiligen Perspektive.
ERIN>
Aber ist das Konzept der Sünde nicht eine der ältesten Schöpfungen der Menschheit? Sie gab es doch in der griechischen Mythologie genau wie in der Bibel.
MAXWELL>
Du hast deine Frage selbst beantwortet! Sünde ist eine Schöpfung des menschlichen Intellekts! Eine übermenschliche Anstrengung, die den ewigen Zustand des Leids erklären soll, in dem der Mensch sich seit Anbeginn der Zeit befunden hat. Sieh dir doch Ödipus an. Der arme Junge hat alles, was in seiner Macht stand, getan, die Sünde zu meiden, und hat dann doch schließlich seinen Vater getötet und
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