Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
weh. Sie atmete ein und aus, ein und aus, und starrte auf das Licht der Scheinwerfer, das hin und her über die Wand huschte. Nach einer Weile rollte sie sich auf die Seite. Das Display der Uhr auf dem Nachttisch zeigte 23.09. Sie tastete nach ihrem Telefon. Der Empfang war gut, aber niemand hatte sie angerufen oder ihr eine SMS geschickt. Sie fragte sich, auf wen sie gehofft hatte. Auf Ben? Es war nach elf. Er und Debbie dürften im Bett sein, vielleicht mit einem Schlummertrunk oder einem Becher Kakao. Oder was sie sonst treiben mochten.
Debbie. Sauber, sauber, sauber.
Sie steckte das Telefon wieder ein, schwang die Beine vom Bett, ging ins Bad und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Dann richtete sie sich auf und schaute ihr Spiegelbild an. »Verdammt«, zischte sie. »Verdammt und zur Hölle mit dem ganzen Scheiß.«
Sie wusste jetzt, was sie tun würde. Sie würde noch einmal zu Mooney fahren.
23
»Millie, ab ins Bett.« Hundert Meilen weiter westlich saß Sally am Küchentisch und sah zu, wie ihre Tochter im Kühlschrank nach einem spätabendlichen Snack stöberte. »Du hast morgen früh Schule. Na los. Es ist spät.«
»Meine Güte.« Millie warf ihrer Mutter einen verächtlichen Blick zu. »Was ist los mit dir? Du gehst mir so was von auf den Keks.«
»Ich habe dich nur gebeten, ins Bett zu gehen.«
»Aber du benimmst dich total schräg.« Sie wandte sich mit einer Packung Milch von Kühlschrank ab und deutete mit vorwurfsvollem Kopfnicken auf das Weinglas neben Sallys Ellenbogen. »Und das Zeug da hast du dir eimerweise reingeschüttet. Echt eimerweise .«
Sally hielt schützend die Hand über ihr Glas. Es stimmte; sie hatte die ganze Flasche getrunken, und es hatte nichts geändert. Nichts. Sie war immer noch angespannt, und ihr Herz raste. »Nimm dir einfach ein Glas Milch«, sagte sie mit beherrschter Stimme, »und geh ins Bett.«
»Und wieso sind alle Türen abgeschlossen? Es ist wie im Gefängnis hier. Ich meine, er kann uns doch hier draußen gar nicht finden, Herrgott noch mal.«
»Was hast du gesagt?«
»Er weiß nicht, wo ich wohne.«
» Wer weiß nicht, wo du wohnst?«
Millie klapperte mit den Lidern, als sei sie nicht sicher, dass sie Sally richtig verstanden hatte. »Jake natürlich. Du hast ihm doch das Geld gegeben. Jetzt lässt er mich in Ruhe.«
Sally antwortete nicht. Die Muskeln unter ihren Rippen taten weh, so groß war ihre Angst den ganzen Tag über gewesen. Es kostete sie große Anstrengung, die Panik im Zaum zu halten. Nach einer Weile schob sie den Stuhl zurück, ging in die Speisekammer und holte noch eine Flasche von Steves Wein. »Gieß dir ein Glas Milch ein. Geh auf dein Zimmer, und mach das Fenster zu. Es soll Regen geben heute Nacht.«
Millie lärmte in der Küche herum, holte sich ein Glas und goss Milch hinein. Dann knallte sie den Milchkarton auf die Arbeitsplatte und verschwand. Sally blieb reglos in der Speisekammer stehen und lauschte, wie ihre Tochter mit polternden Schritten durch den Flur ging und ihre Zimmertür zuschlug. Sie legte den Kopf an die Wand, atmete tief durch und zählte bis zehn.
Es war fast neun Stunden her, dass Steves Flugzeug in Bristol gestartet war. Neun Stunden, und es kam ihr vor wie neun Jahre. Neun Jahrhunderte. Müde stieß sie sich von der Tür ab, zog den Korken aus der Flasche, trug den Wein zum Tisch und füllte ihr Glas. Sie setzte sich und warf einen Blick auf das Display ihres Handys. Nichts. In fünfzig Minuten würde er landen. Sie hatte mehrere Nachrichten auf seiner Mailbox hinterlassen. Wenn er sein Telefon einschaltete, bevor er zur Einreisekontrolle ging, würde er sie innerhalb der nächsten Stunde alle bekommen. Dann würde er wissen, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie hob den Blick zum Fenster. Die helle Küche spiegelte sich in den schwarzen Scheiben, alle Flächen und Schränke, und mitten darin ihr eigenes Gesicht, weiß wie der Mond. Nachdem sie Millie von der Schule abgeholt hatte, war sie im Haus herumgegangen und hatte alle Türen und Fenster verschlossen und die Vorhänge zugezogen. Aber dann hatte sich der Gedanke in ihren Kopf geschlichen, dass jemand unsichtbar draußen vor den Fenstern stehen könnte, und schließlich hatte sie die Vorhänge wieder aufgerissen. Wenn sie vor der Wahl stand, beobachtet zu werden oder nicht zu wissen, was draußen vorging, wollte sie lieber beobachtet werden.
Beobachtet …
Sie war an diesem Abend sicher, so sicher gewesen, dass niemand sie und Steve im
Weitere Kostenlose Bücher