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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Garten beobachtet hatte. Wie also war es möglich gewesen? Was hatte sie übersehen?
    Sie zog den Laptop zu sich heran und rief Google auf. Als Google Earth herausgekommen war, hatten sie und Millie Stunden damit verbracht; sie hatten sich auf die Häuser ihrer Freunde hinuntergezoomt und per Street View virtuelle Spaziergänge durch die Straßen unternommen, die sie kannten. Durch Straßen, die sie nicht kannten. Durch Straßen, die sie vielleicht niemals betreten würden. Jetzt zoomte sie sich auf Peppercorn herab. Das vertraute Satteldach der Garage, die grauen Giebel – drei vorn und hinten –, der Steinkamin und das Rieddach. Das Foto war zur Mittsommerzeit aufgenommen worden, und die Bäume sahen flauschig und dick wie Pusteblumen aus und warfen kurze, wolkige Schatten auf den Rasen. Sie malte mit dem Finger einen großen Kreis um das Cottage. Aber da war nichts, kein Gebäude, das hier Einblick hatte. Sie zoomte heraus, und da war immer noch nichts, nur die vertrauten Pflanzreihen auf den benachbarten Feldern.
    Sie schob den Computer zurück und blieb eine Weile sitzen, den Finger an die Lippen gelegt, und dachte nach. Dann stand sie auf, knipste das Licht aus und trat ans Fenster. Da draußen war nichts. Keine Bewegung, keine Veränderung. Nur das ferne Funkeln der Autos auf der Autobahn und der mattgraue Schein des Mondes hinter den Wolken. Sie zog die Schuhe aus und tappte lautlos durch den Flur zu Millies Zimmer. Millie lag im Bett und schlief. Sie atmete gleichmäßig ein und aus. Sally kehrte zurück in die Diele, zog ihre Gummistiefel und einen Dufflecoat an und suchte die große, starke Handlampe, die Steve ihr unbedingt hatte kaufen wollen, weil er es für verrückt hielt, hier draußen im Dunkeln zu sitzen, mitten im Nirgendwo, wo immer wieder der Strom ausfiel. Steve. O Gott, wenn er doch jetzt hier wäre.
    Geräuschlos ging sie durch die Hintertür hinaus. Es war kühl – sehr kühl, beinahe kalt, nachdem es tagsüber für die Jahreszeit viel zu heiß gewesen war. Einen Augenblick lang blieb sie stehen und schaute sich in der vertrauen Umgebung um. Sie sah die Reihe der Weißbirken am Nordrand, das Wäldchen im Osten, den oberen Garten, in dem ein Kiwibaum mit harten, bitteren Früchten wuchs. Ihr Auto stand da, wo sie und Steve sechs Nächte zuvor gestanden hatten; beide zitternd und mit Übelkeit kämpfend nach dem, was sie getan hatten.
    Sie schloss die Tür hinter sich ab und ging zum Auto. Mit dem Rücken an den Wagen gelehnt, ließ sie den Blick langsam, sehr langsam über den Horizont wandern. Nichts. Sie ging um den Wagen herum und tat das Gleiche auf der anderen Seite. Da war nichts. Kein Haus, keine Stelle, wo jemand hätte stehen und sie beobachten können. Sie ging quer über den Rasen zu dem Beet, wo sie gestern das Reisigfeuer gemacht hatte. Auf der Erde leuchtete noch grau die Asche, und in der Luft hing ein zarter Hauch von verkohltem Holz. Sie hob die riesige Lampe, schaltete sie ein und richtete den Lichtstrahl auf die Bäume. Sie hatte diese Lampe noch nie benutzt; sie war so hell, dass sie über mehrere hundert Meter hinweg jedes Detail erkennen konnte. Wenn der Lichtstrahl auf Glas träfe, auf eine Fensterscheibe, die sie vielleicht übersehen hatte, würde er zu ihr zurückreflektiert werden. Sie schwenkte den Strahl über die Felder und in einem weiten Kreis zum Cottage hinauf, über die Garage und holpernd über die Hecken. Im Wald konnte sie einzelne Blätter und Äste erkennen, und die Bäume wiegten sich wispernd. In dem Wäldchen am oberen Rand des Grundstücks erfasste der Lichtstrahl zwei grün leuchtende Punkte: Augen, die sie stetig anschauten. Sie hielt inne und bekam Herzklopfen. Die Augen bewegten sich, duckten sich weg und wandten sich ab. Es war nur ein Reh, das sie beim Äsen erschreckt hatte.
    Sally atmete aus und ließ die Lampe sinken. Da war nichts – kein Gebäude, kein verborgener Rastplatz, keine Vogelbeobachtungsstation, kein Baumhaus, kein Bauernhof. Nichts, wo jemand sich hätte verstecken und beobachten können, was sie hier taten. Und dann fiel ihr etwas ein. Etwas, das ihr die ganze Zeit schon hätte klar sein können, wenn sie vernünftig nachgedacht hätte. Das Auto. Wer immer ihr die Botschaft geschickt hatte, hatte sie im Auto hinterlassen, als es bei Steve parkte. Was bedeutete das? Warum war er nicht zu ihr nach Hause gekommen? Warum sich die Mühe machen, ihr zu Steve zu folgen, wenn …
    Natürlich. Sie knipste die Lampe aus und ging

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