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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Mitleiderregend. Zoë zog sich die Kapuze fester um den Kopf und tat, als habe sie mit dem Reißverschluss zu kämpfen. Dann hob sie zum Abschied die Hand und ging eilig den nassen Weg hinunter. Das Tuch steckte wohlbehalten in ihrer Tasche.

41
    Der Regen hatte aufgehört, und die Wolken waren abgezogen, aber die Sonne war fast untergegangen, und ihr flüssiges orangegelbes Licht zerfloss über den Häusern und Kirchen auf den Höhen oberhalb von Bath. Es war kalt. Sally zog ihren Dufflecoat fester um die Schultern und beobachtete, wie Zoë den Weg vom Haus der Woods herunterkam. Sie hatte die Kapuze hochgeschlagen und die Sonnenbrille abgenommen. Ihr Gesicht war nackt im Zwielicht. Die Blutergüsse und die Nasenschwellung waren in den letzten zwei Stunden schlimmer geworden, aber sie sah nicht mehr ganz so zerbrochen aus. Es war, als sei irgendetwas in ihr wieder heil.
    Sie stieg in den Wagen und schlug die Tür zu. »Alles okay?«
    »Ja«, sagte Sally.
    »Gut. Du kannst jetzt fahren. Zur Hauptstraße hinauf und dann links, dicht am Kanal entlang. Ich sage dir, wo du anhalten sollst.«
    Sally ließ den Motor an und fuhr aus der Einfahrt hinaus in den abendlichen Verkehr. Zoë zog ihre Jacke aus und wühlte in den Taschen. Sie legte sich einen Plastikbeutel auf den Schoß und breitete ein orangegelbes Tuch darauf aus. Dann durchsuchte sie ihre Jacke noch einmal, förderte einen kleinen Ziploc-Beutel zutage und öffnete ihn. Er enthielt ein mit Sperma gefülltes Kondom.
    »O Gott«, brummte Sally.
    »Na, schau nicht hin, wenn du es nicht verkraften kannst.«
    »Ich kann es verkraften. Ich kann es.«
    »Mach die Heizung an.«
    Sally drehte die Heizung voll auf und konzentrierte sich auf den Verkehr. Ab und zu warf sie einen Seitenblick auf ihre Schwester, die konzentriert auf der Unterlippe kaute, während sie das Kondom aufknotete und den Inhalt sorgfältig auf dem Tuch verteilte. Dann faltete sie das Tuch zusammen, rieb die Hälften aneinander und legte es auf die Plastiktüte auf dem Boden vor der Heizung.
    »Ekelhaft.« Sie warf das Kondom wieder in den Ziploc-Beutel und wischte sich mit ein paar feuchten Tüchern die Hände ab. »Ekelhaft.«
    Sie lehnte sich zurück, strich sich das Haar aus den Augen und schob den Sitz zurück, damit sie die Beine ausstrecken konnte. Sie war so groß, dachte Sally, und ihre Beine waren unglaublich – so lang und so stark. Wenn Sally solche Beine mitbekommen hätte, um damit durchs Leben zu gehen, hätte sie die Welt genauso bei den Hörnern genommen, wie Zoë es getan hatte. Sie hätte keine Angst davor gehabt. Sie hätte alles getan, was auch ihre Schwester getan hatte, und sie hätte nichts davon bereut. Wenn sie es doch nur irgendwie erklären könnte – dass sie stolz auf alles gewesen wäre. Sogar auf das Pole Dancing. Um so was zu tun, brauchte man wirklich Mut.
    »Es wird alles gut«, sagte Zoë plötzlich. »Jetzt wird alles gut.«
    »Woher weißt du das?«
    Mit einem kleinen, verwunderten Lächeln schüttelte Zoë den Kopf. Das Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Wagen flackerte auf ihrem Gesicht. »Es ist einfach so.«
    Der abendliche Verkehr war sehr dicht. Sogar die Straßen, die am Kanal entlang in die Stadt zurückführten, waren verstopft, und sie brauchten fast eine halbe Stunde bis zu der Bushaltestelle, die Lorne an dem Abend benutzt hatte, als Kelvin sie überfallen hatte. Mit Taschenlampen suchten sich die beiden Frauen ihren Weg durch das Dickicht zum Kanal. Stoßverkehr herrschte nicht nur auf den Straßen; auch der Leinpfad am Kennet and Avon Canal diente als Ausfallstrecke aus der Stadt hinaus. Büroangestellte düsten dort nach Dienstschluss mit dem Fahrrad entlang, den Anzug brav im Rucksack verstaut. Aber als die beiden Schwestern am Leinpfad ankamen, war die Rushhour bereits vorbei und der Weg leer. Man hörte nur noch die Geräusche der Leute auf den Booten, die sich ihr Abendessen zubereiteten.
    Sie gingen schnell und mit gesenktem Kopf. Der Tatort war zwei Tage zuvor wieder freigegeben worden, und als sie näher kamen, sahen sie im nassen Gras ein paar durchweichte Blumensträuße, die braun durch das Zellophan schimmerten. Zoë sah sich kurz um, und dann verließ sie den Leinpfad und verschwand knisternd im Unterholz. Ein paar Schritte vor einer von tropfenden Ästen und Nesseln umgebenen natürlichen Lichtung blieben sie stehen. Ein mit Blumen umflochtenes Kreuz war an einen Baum vor ihnen genagelt. Sally starrte es an. Das dürften die

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