Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
auf die Pippa bei ihrer hastigen Bestandsaufnahme nach Lornes Verschwinden sicher nicht weiter geachtet hatte. Einen BH und einen Slip schob sie zur Seite; Lornes Unterwäsche war gefunden worden, und so war beides nicht zu gebrauchen. Sie betrachtete eine graue Schirmmütze mit Strassbesatz – nein, zu auffällig, jemand würde sich daran erinnern, wenn sie eine solche Mütze getragen hätte. Dann sah sie ein orangegelbes Seidentuch.
Sie setzte sich auf die Fersen und legte das Tuch über ihre Knie. Es hätte an dem Nachmittag, als Lorne das Haus verließ, unter ihrer pinkfarbenen Fleece-Weste gesteckt haben können, ohne dass es jemand bemerkt haben musste. Auffallend genug war es – nicht wie etwas, das man einfach so im nächstbesten Kaufhaus mitnahm, sondern eher ein Teil, das man aus dem Urlaub mitgebracht hatte. Sie warf einen Blick auf das Label. »Sabra Dreams« stand darauf. »Made in Morocco«. An der Pinnwand über dem Schreibtisch hing ein Foto von Lorne auf einem Familienurlaub in Marrakesch. Pippa würde sich daran erinnern, dass sie das Tuch gekauft hatte.
Zoë steckte es in die Jackentasche und zog den Reißverschluss zu. Sie schloss die Schublade, klappte die Sonnenbrille herunter und kehrte zurück nach unten. Pippa sah aus wie bestellt und nicht abgeholt. Als warte sie ständig auf irgendetwas.
»Haben Sie gefunden, was Sie suchen?«
»Ich wollte mich nur noch einmal umsehen. Ich dachte, ich hätte etwas übersehen. Aber ich hab mich geirrt.« Sie blieb an der untersten Stufe stehen und starrte Pippa an.
»Was ist?« Pippa klapperte töricht mit den Lidern. »Was ist denn?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich hab mich gefragt …«
»Was?«
»Ich sollte Sie das nicht fragen. Es gehört sich nicht, aber ich möchte es trotzdem wissen. Ich möchte wissen, was Sie für die Person empfinden, die das getan hat.«
Pippa verzog entnervt das Gesicht. »O bitte – noch einen Vortrag über Vergebung ertrage ich nicht. Ich werde ihm nicht vergeben. Ich weiß, dass es falsch ist. Ich weiß, dass es im Widerspruch zu allen Idealen steht, die ich zu haben glaubte. Aber so etwas passiert einem, und dann will man nur, dass er stirbt. Dass er stirbt, ohne eine letzte Botschaft zu hinterlassen. Ohne eine Henkersmahlzeit und ohne dass er jemandes Hand halten darf. Daran musste ich immer wieder denken – dass sie niemandes Hand halten konnte, als sie starb. Und jetzt will ich, dass seine Mutter genauso empfindet wie ich. Wenn ich dafür in der Hölle schmoren muss, soll mir das recht sein. Es ist das, was ich empfinde.«
Zoë nickte. Pippa hatte den Namen nicht ausgesprochen, aber sie glaubte offenbar immer noch, dass Ralph ihre Tochter ermordet hatte.
Als Ben mit Zoë zum Revier gefahren war, um eins der Mobiltelefone der Einheit als Ersatz für das zu holen, das bei Kelvin geblieben war, hatten sie sich durch die Hintertür in Bens Büro geschlichen und eine kurze Datenbankrecherche zu Kelvin durchgeführt. Das Resultat hatte ihnen den Atem verschlagen. Immer wieder war er wegen geringfügiger Verstöße festgenommen worden. Schon vor seinem Eintritt ins Militär – etwa um die Zeit, als Zoë auf Weltreise gewesen war – hatte er sich als Alptraum für die Polizeibehörden erwiesen. Wieder und wieder hatte er mit schrillen Warnsirenen darauf hingewiesen, dass er gefährlich war. Aber wieder und wieder war er wegen irgendwelcher Formalien auf freien Fuß gesetzt worden. Erstaunlicherweise war ihm sein Waffenschein erst nach der Geschichte in Radstock entzogen worden. Bis dahin hatte er uneingeschränkten Zugriff auf eine Schrotflinte vom Kaliber 12 gehabt. Wenn Pippa Schwierigkeiten hatte, Ralph zu vergeben, was würde sie dann sagen, wenn sie von Kelvin hörte und erfuhr, dass das komplette System sie im Stich gelassen hatte?
»Tut mir leid«, sagte Zoë schließlich. »Tut mir leid, wie das alles gelaufen ist.«
»Mir auch, Zoë. Mir auch.«
Müde stand sie auf und öffnete die Tür. Zoë zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und setzte die Kapuze auf, obwohl es nicht regnete. Pippa legte ihr eine Hand auf den Arm und betrachtete ihr Gesicht. Die geschwollene Nase und die roten Striemen auf den Wangenknochen. »Zoë? Läuft irgendeiner jemals wirklich gegen eine Tür?«
»Aber andauernd.«
» Ich noch nie. Im ganzen Leben noch nicht.«
»Dann waren Sie auch noch nie so betrunken wie ich.«
Pippa versuchte zu lächeln, doch was dabei herauskam, sah verzerrt und traurig aus.
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