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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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heran.
    »Mrs. Cassidy?« Er beugte sich herunter, spähte durch das Fahrerfenster herein, hob die Faust und tat, als klopfe er an die Scheibe. »Kann ich Sie sprechen?«
    Sally drehte das Fenster herunter. »Nial? Was gibt’s?«
    »Ich kann sie mitnehmen. Ich hab den Bus hier. Er steht um die Ecke.«
    Sie starrte ihn an. Das Gel in seinem Haar und die Art, wie er seine Krawatte knotete, ließen ihn nicht erwachsen und cool aussehen, sondern noch jünger und kleiner. Noch unzulänglicher.
    »Was ist?«, fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Das wäre sehr nett von dir. Ich hole sie dann bei euch ab. Gegen sieben.«
    Sie wollte das Fenster wieder schließen, aber er hüstelte höflich. »Äh … Mrs. Cassidy?«
    »Was?«
    Er biss sich auf die Lippe und schaute sich wieder um, als sei er sicher, dass ihn jemand belauschte. »Millie hat …«
    »Was hat Millie?«
    »Soll ich ehrlich sein? Verraten Sie ihr nicht, dass ich es Ihnen gesagt hab, aber sie hat Angst.«
    »Sie hat Angst ? Dafür gibt es doch keinen Grund.«
    »Sie sagt, Sie benehmen sich verrückt, und sie hat sich in den Kopf gesetzt, dass Sie von jemandem bedroht werden. Wollen Sie deshalb nicht, dass sie allein nach Hause fährt?«
    »Wie um alles in der Welt kommt sie denn darauf?«
    »Ich weiß es nicht. Aber sie hat den ganzen Vormittag über nicht aufgehört, davon zu reden. Sie glaubt, jemand ist hinter Ihnen her.«
    »Hör zu, Nial. Millie braucht sich keine Sorgen zu machen, weder meinetwegen noch aus irgendeinem anderen Grund. Das einzige Problem ist, dass ich um fünf nicht hier sein kann, um sie abzuholen. Das ist alles. Sonst gibt es keine Probleme.«
    »Okay.« Er klang nicht überzeugt. »Mrs. Cassidy«, sagte er schließlich, »ich weiß nicht, was bei Ihnen los ist, aber eins kann ich Ihnen sagen. Wenn jemals einer versuchen sollte, Millie etwas anzutun …« Betrübt schüttelte er den Kopf, als bedaure er, so etwas sagen zu müssen, »… dann müsste er vorher an mir vorbei. Nichts und niemand wird an sie herankommen, solange ich da bin.«
    Sally lächelte gezwungen und griff zum Zündschlüssel. Seine Heldennummer machte sie ungeduldig. Er war zu jung, um die Wahrheit wirklich begreifen zu können und eine Vorstellung von der furchtbaren, überwältigenden Realität eines Kelvin Burford zu haben.
    »Danke, Nial«, sagte sie freundlich. Sie war müde. Sehr müde. »Danke. Ich hole sie vor sieben wieder ab.«

40
    Seit Zoës letztem Besuch war in Lornes Zimmer nichts angerührt worden. Das merkte sie an der reglos lastenden, eingeschlossenen Luft. Hier fehlte Bewegung, menschlicher Atem. Sie schob die Sonnenbrille über die Stirn nach oben, kniete sich hin, öffnete die untere Schublade und hob die Kleidungsstücke Lage um Lage heraus. Es war nach sechs, und der Regen war über die Stadt hinweggezogen. Von den hübschen Bäumen vor Lornes Fenster tropfte das Wasser. Dahinter lag die Einfahrt, und an ihrem Ende wartete Sally in ihrem kleinen Ka. Sie hatte Zoë hergefahren, und jetzt war sie ebenso erpicht wie Zoë, diese Phase der Operation ohne Fehler zu bewältigen. Sally, die kleine Sally, die keineswegs willensschwach und verwöhnt war, wie sich zeigte, sondern tougher und gescheiter, als Zoë je vermutet hätte. Und dann – du lieber Gott –, dann war da noch Ben.
    Trotz allem, was bei Kelvin passiert war, wurde ihr ein bisschen weicher ums Herz, wenn sie an Ben dachte. Er war … ja, was war er? Zu gut, um wahr zu sein? Ein Mensch, den sie nicht mit einem sarkastischen »Ja, ja« beiseiteschieben konnte. Bei ihr zu Hause hatte er, statt zu reden und Fragen zu stellen, einfach dagesessen, sie in den Armen gehalten, das Kinn auf ihren Scheitel gelegt und sich die ganze Geschichte angehört. Alles. Und danach, als sie erwartet hatte, jetzt werde er verlegen hüsteln, steif murmelnd versprechen, dieses Geheimnis für sich zu behalten, und ihr raten, vielleicht über eine Therapie nachzudenken, war er achselzuckend aufgestanden, hatte den Wasserkocher eingeschaltet und gesagt: »Okay, haben wir noch Zeit für eine Tasse Tee, bevor wir den Drecksack festnageln?« Jetzt war er irgendwo mit dem Auto unterwegs nach Gloucester, mit einer Liste von Kelvins bekannten Kontakten in der Tasche. Sie seufzte. Bei allem, was sie in der Welt falsch gemacht hatte – wie hatte es so leichtfallen können, es diesmal richtig zu machen?
    Sie schloss die Schublade und öffnete die nächste. Sie fand Bücher und dahinter ein paar Kleinigkeiten,

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