Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
niemand, der sagte: »Sieh mal da. Sieh mal, mit dieser Sally Cassidy geht es auch immer mehr bergab. Sieh mal, wie sie die Hütte um sich herum verlottern lässt.« Ein kleines, aus Steinen gemauertes Haus, ganz allein inmitten von Ackerland, nur eine knappe Meile von Isabelles Haus entfernt. Es hatte einen weitläufigen Garten und eine Aussicht in endlose Fernen, und Peppercorn hieß es, weil es vor Jahren gegen einen nominellen Betrag verpachtet worden war, buchstäblich »für ein Pfefferkorn«. Es war so verwinkelt, wie Sally nur je ein Haus gesehen hatte. Alles hatte Stufen oder zumindest verschiedene Höhen: die Fußböden, die Decke, sogar die Ziegel waren krumm und schief. Nirgends eine gerade Linie. In den letzten anderthalb Jahren hatten sie und Millie es mit allerlei Zeug vollgestopft, das sie in ihrer Freizeit bastelten. In der Küche stapelten sich die Sachen: glasierte, mit Strass beklebte Eierbecher, kleine Porträts der Haustiere, die sie im Laufe der Jahre gehabt hatten, kunterbunt an die Wand geklebt, und die bunten Bonbon-Weihnachtssterne, die immer noch wie farbiges Glas in den Fenstern hingen und das Sonnenlicht in topasfarbene Tupfen verwandelten. Ganz anders als das Haus in der Sion Road, in dem sie mit Julian gewohnt hatten.
Das Wohnzimmer lag hinten; durch das Fenster schaute man über die flachen Felder hinaus, sah kein Haus, so weit das Auge reichte. An diesem Abend ließ Sally die Vorhänge offen, um die Nacht hereinzulassen. Sie saß zusammengerollt mit Steve auf dem Sofa, trank Wein und starrte ungläubig auf den Fernseher. Lorne Woods Tod kam landesweit in den Nachrichten und war die Top Story in den Lokalmeldungen.
»Ich kann es nicht glauben«, murmelte Sally und drückte die Lippen an den Rand des Glases. »Lorne. Sieh sie dir an – sie kann doch nicht tot sein. Sie war so hübsch.«
»Sieht nett aus, das Mädchen«, sagte Steve. »Deshalb werden sie mehr darüber berichten.«
»Die Jungs waren allesamt verrückt nach ihr. Verrückt. Und ausgerechnet auf dem Leinpfad . Millie und ich gehen da dauernd hin.«
»Es ist immer noch ein ganz normaler Fußweg. Ihr könnt immer noch hingehen.«
Sally fröstelte. Sie strich mit den Händen auf und ab über die Gänsehaut an ihren Unterarmen und rutschte ein Stückchen näher an Steve heran, um ein bisschen von seiner Wärme zu stehlen. Sie und Steve waren jetzt seit vier Monaten zusammen. An Abenden wie heute, wenn Millie bei Julian war, ging Sally zu Steve, oder er kam zu ihr ins Cottage und brachte einen Armvoll Leckereien mit, einen Karton Wein und guten Käse aus den Delikatessenläden im Stadtzentrum. Aber heute Abend wünschte Sally, Millie wäre bei ihnen und nicht unten in der Sion Road. Als sie sich nach einer Weile immer noch nicht entspannen konnte und das Frösteln nicht aufhörte, schwenkte sie die Beine vom Sofa, suchte ihr Telefon und wählte Millies Handynummer. Millie meldete sich nach dem zweiten Klingeln. »Mum.« Sie klang halb aufgeregt, halb verängstigt. »Hast du das gesehen? In den Nachrichten? Sie haben sie ermordet .«
»Darum rufe ich dich an. Ist alles in Ordnung?«
»Lorne haben sie ermordet. Nicht mich.«
Sally antwortete nicht gleich. Millies wegwerfende Reaktion brachte sie aus der Fassung. »Entschuldige. Ich dachte nur, weil du Lorne doch so gut kanntest …«
»Wir haben uns nicht gut gekannt, Mum.«
»Aber sie schien dauernd mit dir zusammen zu sein.«
»Nein, das denkst du bloß. In Wirklichkeit waren ihr die Kids vom Faulkener’s lieber, und ich bin auch lieber mit Sophie zusammen.«
»Trotzdem muss es schrecklich für dich sein.«
»Nein – echt, ich meine, ich bin voll geschockt, aber ich heule mir nicht die Augen aus dem Kopf. Das ist ’ne Ewigkeit her. Ich hab sie seit einer Ewigkeit nicht gesehen.«
Sally schaute aus dem Fenster. Der einsame Mond hob sich über den Horizont. Eine rote, dicke Scheibe. Millie war jetzt ein richtiger Teenager. Für sie war ein Jahr wirklich eine Ewigkeit. »Okay«, sagte Sally nach einer Weile. »Nur eins noch – wenn du heute Abend weggehst, rufst du mich dann vorher an? Und sagst mir, wo du hingehst?«
»Ich gehe nicht weg, ich bleibe hier. Bei denen .« Sie meinte Julian und seine neue Frau, Melissa. »Pech. Dabei ist heute Abend das Glasto-Meeting.«
»Das Glasto-Meeting?«
»Ich hab dir davon erzählt, Mum. Peter und Nial holen übermorgen ihre Campingbusse ab. Sie treffen sich heute Abend, um alles zu besprechen. Hat Isabelle dir nichts
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