Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
eine Antwort gehabt hatte, hatte sich in etwas Ruhigeres verwandelt. Es war keine Veränderung, die sie genau hätte beschreiben können; es hatte nur etwas mit der Dauer des Schweigens zwischen den Sätzen zu tun. Damit, dass sein Blick manchmal mitten im Gespräch abschweifte.
Während Zoë jetzt eine neue Flasche aus dem Regal nahm und den Korkenzieher hineindrehte, ging Ben in die kleine Speisekammer, um eine Tüte Chips zu holen. Eine Zeitlang blieb er dort stehen und betrachtete die Vorräte. »Du hast ja Unmengen hier gebunkert«, stellte er fest.
Sie blickte nicht auf. »Ja. Für den Fall, dass ich mal krank werde und nicht aus dem Haus kann.«
»Könntest du dann nicht einfach jemanden bitten, für dich einzukaufen?«
Zoë unterbrach ihren Kampf mit dem Korkenzieher und hob den Kopf. Einfach jemanden bitten ? Wen zum Teufel sollte sie denn bitten? Ihre Eltern waren nicht hier. Manchmal telefonierte sie mit ihnen, und ab und zu besuchte sie die beiden in Spanien, wenn sie das Gefühl hatte, dass es angebracht war. Aber sie waren Tausende von Meilen weit weg, und wenn sie ehrlich sein sollte, hatte sie immer ein angespanntes Verhältnis zu ihnen gehabt. Sally hatte sie seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen – das heißt, sie hatten zumindest nicht mehr richtig miteinander gesprochen, sondern sich höchstens kurz auf der Straße getroffen. Und andere Verwandte hatten sie hier in der Gegend nicht. Ihre Freunde – nun ja, das waren entweder die Cops oder die Biker. Als Krankenpflegerinnen waren die alle nicht zu gebrauchen.
»Ich meine, das würdest du doch auch für jemanden tun, wenn es nötig wäre, oder?«
»Darum geht’s nicht.«
»Worum dann?«
Sie wandte sich wieder dem Korkenzieher zu. »Dass man auf das Unerwartete vorbereitet sein muss. Das haben sie uns damals schon in der Ausbildung eingetrichtert. Ich erinnere mich genau daran.« Sie füllte ihr Glas und schob es zur Seite. Dann griff sie in die Satteltasche des Motorrads und zog die Akte über Lorne heraus. Sie breitete die Obduktionsfotos auf dem Tisch aus. Ben schüttete die Chips in eine Schale, kam damit zum Tisch und schaute die Bilder an.
»›All like her‹?« Zoë strich mit dem Zeigefinger über die Worte auf Lornes Bein. »Was bedeutet das? ›Alle wie sie‹ …«
»Ich weiß es nicht.«
»Da fehlen Buchstaben. Vorn und hinten. Sie sind verwischt.«
»Es ist nur ein Teil der Botschaft. Ich nehme an, wir müssen den Rest ergänzen. Falls es wichtig ist.«
Sie nahm die Aufnahme von Lornes Bauch in die Hand. Das Wort » no one «. »Was zum Teufel …?«, murmelte sie. »Ich meine, wirklich – er ist doch verrückt, oder? Was soll denn das heißen – ›niemand‹?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dass sie für ihn ›niemand‹ ist? Nichts? Entbehrlich? Oder dass niemand ihn versteht?«
Ben setzte sich. »Weiß der Himmel. Ein verdammter Alptraum, nicht wahr? Und ich muss immer wieder an das denken, was sie vor dem Boot gesagt hat: ›Ich hab genug.‹ Die Freundin, mit der sie telefoniert hat, hat ausgesagt, an dem Gespräch sei nichts Ungewöhnliches gewesen.«
»Alice.«
»Alice. Wenn Lorne also gesagt hat: ›Ich hab genug‹, wovon hat sie dann gesprochen? Und warum hat Alice es nicht erwähnt?« Er starrte müde in sein Glas und ließ den Wein hin und her schwappen. »Jemand wird morgen früh mit ihren Eltern sprechen müssen.«
»Der Familienbetreuer ist über Nacht bei ihnen.«
»Ich möchte nicht mal daran denken, was sie im Augenblick durchmachen.«
»Ganz recht. Noch ein guter Grund, keine Kinder zu kriegen. Jemand hätte ihnen die Warnhinweise auf der Packung vorlesen sollen, bevor sie sich auf die Sache mit der Fortpflanzung einließen.«
Ben sah sie an. »Noch ein guter Grund, keine Kinder zu kriegen? Hast du das gerade gesagt?«
»Ja. Warum?«
»Klingt ein bisschen flapsig.«
Sie zuckte die Achseln. »Nicht flapsig – rational. Ich verstehe einfach nicht, warum die Leute es tun. Wenn du dich in der Welt umsiehst – wie überfüllt sie ist – und wenn du dann Leute siehst, die durchmachen müssen, was die Woods jetzt durchmachen … ich meine – warum will man es dann noch?«
»Aber man hat doch nicht keine Kinder, weil man Angst hat, sie zu verlieren. Das ist verrückt.«
Zoë starrte ihn an und fühlte ein leises Pulsieren im Hinterkopf. Sie war verärgert über diese Bemerkung. Sein Ton war mitleidig gewesen. Als sei sie krank, wenn sie keine Kinder kriegen wollte, oder gestört.
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