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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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schob sie in einen Asservatenbeutel, den der Assistent ihm entgegenhielt. Zoë und Ben standen wie erstarrt da, den Blick auf das gerichtet, was vor ihnen lag. Sie mussten das alles erst einmal in sich aufnehmen.
    Von der Taille aufwärts war sie mit dem grauen Banksy-T-Shirt bekleidet. Unterhalb davon war sie splitternackt. Ihre Beine waren auseinandergedrückt und wie bei einem Frosch angewinkelt: die Knie seitwärts gerichtet, die Fußsohlen zusammengelegt. Auf den ersten Blick nahm Zoë an, dass Bauch und Schenkel mit roten Schnittwunden bedeckt seien, aber dann sah sie, dass die Striche aus einer wachsartigen, orange-roten Substanz bestanden. »Was ist das? Lippenstift?«
    »Möchte man annehmen, nicht wahr?« Der Arzt schob seine Brille über den Nasenrücken hinauf und beugte sich stirnrunzelnd vor. »Da steht etwas. Vielleicht sollten Sie – äh?«
    »›All like her…‹« Ben legte den Kopf zur Seite und las die Buchstaben, die sich an der Innenseite des Oberschenkels hinaufzogen. »›Alle wie sie‹? Lese ich das richtig?«
    »Und da?« Der Rechtsmediziner deutete auf ihren Bauch. Eine Reihe von Buchstaben führte unterhalb der Rippen quer über den Nabel. »Ziemlich klar, finde ich.«
    »›No one‹?«, murmelte Zoë. »Niemand.« Sie hob den Kopf und sah Ben an, als hätte er eine Erklärung. Er schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln.
    »Was mir am Tatort schon aufgefallen war, ist das hier.« Der Arzt beugte sich herunter und spähte unter Lornes Gesäß. »Er hat alle ihre Kleider – Jeans, Strümpfe, Unterhose – zusammengerollt und hierhingeschoben. Und wenn ich mich nicht sehr irre, sind sie nicht beschädigt, nicht zerrissen.«
    »Sie hat sich von ihm ausziehen lassen?«
    »Kommt darauf an, was Sie unter ›lassen‹ verstehen. Vielleicht hatte sie keine Wahl. Vielleicht konnte sie sich zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr wehren.«
    »Sie meinen, er hat sie vergewaltigt, als sie …«
    »Als sie besinnungslos war«, sagte Ben leise. »Er hat sie bewusstlos geschlagen und sich dann über sie hergemacht. Deshalb hat niemand am Kanal etwas gehört.«
    »Dazu sage ich nichts«, erklärte der Arzt. »Ich weise nur auf interessante Bereiche hin, denen wir bei dieser Obduktion unsere Aufmerksamkeit widmen könnten. Die übrigens …« Wieder schob er seine Brille an der Nase hinauf und bog die Schwanenhalslampe so, dass sie Lorne direkt ins Gesicht leuchtete. »… die übrigens lange dauern wird. Sie haben hoffentlich heute Abend nichts anderes vor.«

7
    Sally stand in David Goldrabs Hauswirtschaftsraum, das Bügeleisen war vergessen, und seine Worte gingen ihr im Kopf herum. Zwanzig Pfund die Stunde. Netto, cash. Steuerfrei. Sechs Stunden die Woche . Jede Woche einhundertzwanzig Pfund zusätzlich? Im Moment kamen sie und Millie haarscharf mit dem Geld hin, nachdem Lebensmittel, Strom und Wasser, Gemeindesteuer und Zinsen bezahlt waren. Vierhundertachtzig Pfund mehr im Monat, das würde bedeuten, dass sie anfangen könnte, die Kredite abzuzahlen. Millie könnte eine neue Schuluniform und neue Jeans bekommen. Aber dafür bei David Goldrab arbeiten? Hier ganz allein, bei seiner rüpelhaften Angeberei? Sie war sich nicht sicher.
    Seit Julian sie verlassen hatte, schien sich jeden Tag ein neues, unüberwindliches Hindernis, eine weitere Zwickmühle aufzutun. Und nie hatte sie Zeit genug, um alles ordentlich zu durchdenken. Damals, bevor Sally und Zoë voneinander getrennt und auf verschiedene Internate geschickt worden waren, hatte Mum sich samstags im Fernsehen immer alte Filme angesehen. In einem ihrer Lieblingsfilme kam eine Figur vor, die gern sagte: »Moral? Moral können wir uns nicht leisten.« Das war es, was passierte, wenn man ganz unten auf der Leiter stand: Ideale – zum Beispiel, dass man anderen Leuten nicht den Job wegnahm – rutschten auf den letzten Platz der Prioritätenliste, weit unter Stromrechnung und Schuluniform. Man lernte herunterzuschlucken, was man eigentlich sagen wollte.
    Sie stellte das Bügeleisen ab, schob das Plastikcover darüber und ging in die Küche. David stand im Frühstückszimmer, kratzte sich die Brust und zappte müßig durch die Kanäle des großen Fernsehers an der Wand. Danuta hockte vor der Spüle; sie hatte ihnen den Rücken zugewandt und sortierte die Putzmittel. Als Sally hereinkam, zog David die Brauen hoch, als sei er überrascht, sie zu sehen. »Okay, Sally?«
    Sie nickte.
    »Was kann ich für Sie tun, Darling?«
    Sie zog ein Gesicht und

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