Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
gesagt?«
Sally nagte am Rand ihres Daumennagels. Sie hatte vergessen, dass das alles schon so dicht bevorstand. Die Jungen wollten mit Peters älterem Bruder und seinen Freunden nach Glastonbury zum Festival fahren. Peter und Nial hatten den Führerschein gemacht und monatelang wie Sklaven geschuftet, um das Geld für zwei vergammelte alte VW-Busse zusammenzukriegen, die sie auf einem Bauernhof in Yate gesehen hatten. Beeindruckt von so viel Entschlossenheit hatten ihre Eltern ihnen das Geld, das noch fehlte, und die Versicherungsprämie zugeschossen. Millie hatte unaufhörlich davon geredet, mit ihnen zum Festival zu fahren, aber die Eintrittskarten kosteten fast zweihundert Pfund. Das war ausgeschlossen. Ganz und gar ausgeschlossen.
»Mum? Hat Isabelle dir nichts gesagt?«
»Nein. Und außerdem glaube ich nicht, dass es heute Abend irgendwelche Treffen gibt. Nicht nach diesen Nachrichten.«
»Doch. Ich hab Nial extra gefragt.«
»Na, aber es hat ja keinen Sinn, dass du dorthin gehst, wenn du nicht mit nach Glastonbury fährst, oder? Tut mir leid, aber darüber haben wir schon gesprochen.«
Am anderen Ende war es lange still.
»Millie? Hat es irgendeinen Sinn, dass du da hingehst?«
Millie tat einen leidgeprüften Seufzer. »Wahrscheinlich nicht.«
»Okay. Mach heute Abend mal früh Schluss. Morgen ist Schule.«
»Okay.«
Sally trennte die Verbindung und blieb eine Zeitlang sitzen. Das Telefon lag mit der Vorderseite nach unten auf ihrem Schoß.
Steve lehnte sich herüber und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung?«
»Ja.«
»Hat sie was gesagt, das dir nicht gefiel?«
Sie antwortete nicht. Im Fernsehen war nicht mehr die Rede von Lorne, sondern von weiteren Ausgabenkürzungen. Fabriken wurden stillgelegt. Das Land ging den Bach hinunter. Immer mehr Menschen verloren ihren Job.
»Sally? Es ist ganz normal, wenn dich das mitnimmt. Es ist ziemlich nah an euch dran.«
Sie schaute wieder zum Mond hinaus, und ein sehnsüchtiges Gefühl überkam sie. Es wäre schön, wenn sie ihm die Wahrheit sagen könnte – dass es nicht bloß Lorne war, nicht bloß Millie. Sondern alles. David Goldrab, der sagte: Ich werde dich nicht Fotze nennen . Das Rieddach, das einstürzte. Der Fleck an der Küchendecke und Isabelles bestürztes Gesicht, als sie erzählt hatte, sie wolle das Tarot verkaufen. Sie hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte. Im Grunde war es das ganz normale Leben, das ihr Angst machte. Sie wünschte, das könnte sie ihm sagen.
9
Bath schmiegte sich – genau wie Rom – in eine Mulde zwischen sieben Hügeln. Heiße Quellen aus der Tiefe der Erde versorgten die alten Bäder, wärmten die Menschen und verhinderten, dass der Schnee in den Straßen liegen blieb. Die Römer waren die Ersten, die dort Häuser bauten, aber auch nach ihnen ließen die Leute es sich nicht nehmen, hier im Warmen zu wohnen; ganze Siedlungen waren verfallen und neu aufgebaut worden. Die Vergangenheit existierte in vielfarbigen Schichten unter den Füßen der Bürger von Bath, als spazierten sie auf einer Schichttorte herum, bei der jeder Schritt ganze Menschenleben umspannen konnte.
Zoë war in der Stadt aufgewachsen. Auch wenn sie und Sally als Kinder auf verschiedene Internate geschickt worden waren und obwohl ihre Eltern schon vor langer Zeit nach Spanien gezogen waren, betrachtete sie Bath immer noch als ihre Heimat. Jetzt wohnte sie oben auf einem der Hügel, den die Stadt im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert erreicht hatte, ganz allein in einem viktorianischen Reihenhaus. In dem winzigen Garten war gerade genug Platz für ein paar Blumentöpfe und einen Schuppen, doch das Haus selbst war geräumig, zumal für eine einzelne Person. Im ersten Stock gab es drei große, hohe Schlafzimmer, und das Erdgeschoss bestand aus einem einzigen Raum, nachdem sie sämtliche Innenwände hatte entfernen lassen. Er war mehr als zehn Meter lang und zweigeteilt: Küche und Essbereich waren vorn, der polierte Holztisch stand im Erkerfenster. Hinten war der Fernsehraum mit ihren Sofas, ihren DVD s und CD s. Und in der Mitte dazwischen, wo die Trennwand gewesen war, stand Zoës »Maschine«.
Das Motorrad war ein echter Klassiker – eine 1980er Harley Superglide Shovelhead –, und in dem Jahr, in dem sie die Welt bereist hatte, war es ihr einziger Freund gewesen. Es hatte sie zweieinhalbtausend Pfund gekostet und dazu ein paar lange schlaflose Nächte, wenn der Keilriemen gerissen war oder mitten auf einer
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