Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
es wirklich kalt war, waren die Sachen bretthart gefroren. Aber sie hielt durch. Es war ein harter Kampf, und immer noch schien es, als käme sie vor lauter Gegenwind keinen Schritt voran. Sie konnte ihre Eltern nicht um Hilfe bitten. Die wären entsetzt gewesen, wenn sie gehört hätten, in welcher misslichen Lage sie war, und außerdem hätte irgendwann auch Zoë davon erfahren. Zoë wäre so etwas niemals passiert. Zoë war immer die Clevere gewesen. Bewundernswert. Nie im Leben hätte sie Jobs von einem wie David Goldrab annehmen müssen. Eher hätte sie ihn mit einem Judo-Kick über die nächste Hecke befördert.
Aber es musste sein, dachte sie, als sie am Morgen des Tages, nachdem Lorne gefunden worden war, aufstand und barfuß in die Küche tappte, um Frühstück zu machen. In der neuen Welt, in der sie lebte, hatte sie keine Wahl. Sie schaltete den Wasserkocher ein, setzte den Milchtopf auf den Herd und stellte Tassen und Teller auf den Tisch. Steve schlief noch; also ließ sie das Radio aus. Da wäre sowieso nur die Rede von Lorne Wood, und sie wusste nicht, ob sie davon noch mehr vertragen könnte. Sie legte ein paar Croissants in den Backofen. Die Tarotkarten lagen noch in einem unordentlichen Stapel auf dem Tisch, wo sie sie am Abend zuvor hingeworfen hatte. Jetzt hielt sie inne und betrachtete noch einmal die Karte mit Millie. Sie sah, dass nicht die Farbe verblasst war, sondern etwas Ätzendes die Oberfläche blasig gemacht und so an Millies Gesicht genagt hatte, dass es aussah wie Wurmfraß. Plötzlich war ihr kalt, und sie hob den Kopf und schaute durch das Fenster auf das Feld hinaus, das sich endlos bis zum Rand des Himmels erstreckte. Der Kanal, an dem Lorne gestorben war, lag meilenweit entfernt. Meilen über Meilen und Meilen.
Du glaubst doch nicht an solche Sachen, oder?
Natürlich nicht .
Sie legte die Karte umgedreht hin und schaltete den Wasserkocher aus. Millie war in Sicherheit. Sie war fünfzehn. Sie konnte auf sich aufpassen. Und außerdem musste man als Mutter früher oder später lernen, sich aus dem Kram der Kinder herauszuhalten.
10
Am anderen Ende der Stadt stand Zoë mit einer Tasse Kaffee in der Hand in ihrem Wohnzimmer und betrachtete die Fotos an der Wand. Die meisten stammten von der Reise, die sie vor achtzehn Jahren unternommen hatte. Nur sie und das Motorrad. Sie war überall gewesen. In der Mongolei, in Australien, China, Ägypten, Südamerika. Das Geld für dieses Abenteuer zusammenzubekommen war mehr als schwierig gewesen, und sie hatte sich wirklich krummgelegt dafür; nie wieder wollte sie daran denken, wo sie dafür gewesen und was sie getan hatte. Aber es hatte sich gelohnt. Die Reise selbst hatte sich als wichtigste Zeit ihres Lebens erwiesen, als Lehrstunde in Sachen Selbständigkeit, Überlebenskunst und Entschlossenheit. Sie hatte sie aus der Falle befreit, in der sie seit ihrer Kindheit gesteckt hatte.
Lorne Wood würde niemals Gelegenheit bekommen, irgendetwas von all dem zu lernen, dachte sie jetzt, als die Sonne kraftvoll durch das Erkerfenster hereinschien. Ein ganzes Kapitel ihres Lebens würde niemals geöffnet werden.
Zoë stellte den Kaffee hin, ging umher und öffnete Schränke und Schubladen, bis sie eine Dose Slazenger-Tennisbälle gefunden hatte. Die hatte sie seit zwei oder drei Sommern – seit sie sich in den Kopf gesetzt hatte, jede Frau im Polizei-Tennisclub in Portishead zu besiegen. Das war ihr in sechs Monaten gelungen, und sie hatte ihre Aufmerksamkeit den Männern zugewandt. Aber keiner der Männer hatte noch mit ihr spielen wollen, und da war es ihr langweilig geworden, und sie hatte aufgehört.
Ben lag im Bett und schlief noch. Zoë setzte sich mit dem Rücken zur Treppe auf die Armlehne des Sofas und öffnete die Dose. Die Bälle rochen nach Gummi und altem Sommergras. Sie ließ einen herausrollen und einmal auf dem Boden aufspringen. Dann blies sie darauf, um Flusen und Staub zu entfernen. Sie rieb den Ball am Ärmel, machte den Mund weit auf und drückte den Ball hinein, so weit es ging.
Es war überraschend leicht, und er blieb mit der umfangreichsten Stelle zwischen ihren Zähnen klemmen, halb im Mund, halb draußen. Der trockene, nach Chemie schmeckende Filz schob ihre Zunge nach hinten, sodass der Würgreflex einsetzte. Ihr erster Impuls war es, den Ball herauszureißen – es war wirklich, als hörte sie die Knorpel am Kiefergelenk knacken –, aber sie grub die Finger in die Armlehne, schloss die Augen und versuchte, an
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