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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Welt hast du das Geld denn ausgegeben? Nur weil der Kredit da ist, brauchst du ihn noch lange nicht auszuschöpfen. Wenn du nicht aufpasst, werden sie dir Peppercorn wegnehmen.«
    In diesem Winter hatte Julian sich mit ihr in einem Coffeeshop in der George Street getroffen. Draußen graupelte es, und der Boden im Café war nass von dem Schneeregen, den die Leute von der Straße hereintrugen. Julian und Sally saßen hinten, sodass Melissa sie nicht sehen konnte, falls sie draußen vorbeigehen sollte.
    »Ich kenne niemanden, der in einem Jahr so viel Geld durchbringen kann wie du. Ehrlich, Sally – was hast du nur damit gemacht?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie lahm und völlig ratlos. »Ich weiß es wirklich nicht.«
    »Na, ich wette, es ist nicht für die Unterhaltung des Hauses draufgegangen. Das Rieddach muss vor dem nächsten Winter überholt werden. Ich nehme an, du hast wieder Hinz und Kunz etwas geschenkt. Du bist wie ein Kind, überschüttest die Leute mit Geschenken.«
    Sally legte die Finger an die Schläfen und konzentrierte sich darauf, nicht zu weinen. Wahrscheinlich hatte er recht. Sie kam nicht gern irgendwohin zu Besuch, ohne etwas mitzubringen. Wahrscheinlich hatte sie sich das schon als kleines Mädchen angewöhnt. In der Zeit, als sie alles getan hätte, um Zoë zum Lächeln zu bringen. Wirklich alles. Damals hatte sie ihr Taschengeld gespart, statt es selbst auszugeben; sie hatte gewartet, bis Zoë irgendetwas erwähnte, das sie gern hätte, und sich dann hinausgeschlichen und es gekauft. Zoë hatte nie so recht gewusst, was sie damit anfangen sollte. Sie hatte dagestanden und das Geschenk verlegen angeschaut, als befürchte sie, es könnte explodieren und ihr ins Gesicht fliegen. Als wisse sie nicht, was für eine Miene sie dazu machen sollte. Sally wünschte, sie könnte jetzt mit ihrer Schwester sprechen. Sie wünschte, es gäbe diese furchtbare, kalte Distanz zwischen ihnen nicht.
    »Ich habe nie über Geld nachdenken müssen«, sagte sie jetzt zu Julian. »Darum hast du dich doch immer gekümmert. Das ist keine sehr gute Ausrede, ich weiß. Und du hast recht, das Dach hat ein Loch. Eine Lage muss wohl erneuert werden. Da sind Eichhörnchen und Ratten drin und suchen nach Futter. Jemand hat gesagt, die Reparatur wird zehntausend kosten.«
    Julian seufzte. »Ich kann dich nicht bis in alle Ewigkeit unterstützen, Sally. Ich stehe in der Firma unter großem Druck, und die Situation zu Hause ist angespannt. Das Baby kommt bald, und Melissa macht sich Sorgen ums Geld. Sie wäre nicht erfreut zu hören, dass ich dir immer noch helfe.« Er drehte seine Serviette zusammen und suchte in seiner Jacke nach seiner Brieftasche. Sie war neu und aus Leder, und seine Initialen waren hineingeprägt und vergoldet. Er nahm ein Scheckbuch heraus. »Zweitausend Pfund.« Er fing an zu schreiben. »Danach sind mir die Hände gebunden. Du musst dir andere Geldquellen suchen.«
    Wenn es einen entscheidenden Moment gäbe, der eine Veränderung im Leben markiert – unübersehbar wie ein Wegweiser an einer Gabelung oder wie eine Insel im Fluss –, dann könnte Sally rückblickend zwei solcher Momente erkennen. Der eine läge in ihrer Kindheit, als sie bei einem Streit mit Zoë aus dem Bett und auf die Hand gefallen war und ihre Eltern die ganze Sache unerwartet ernst genommen und so getan hatten, als habe sich eine unbeschreibliche Finsternis auf die Familie gesenkt. Und der zweite wäre dieser Tag mit Julian – der Tag, an dem sie endlich erwachsen geworden war. Über eine Tasse mit heißer Schokolade gebeugt saß sie da mit nassen und kalten Füßen, von ihrem Schirm an der Wand sickerte eine klägliche Pfütze auf den Boden, und sie sah die Welt in ihren wirklichen Farben. Sie sah, dass es ernst war. Real. Die Scheidung war real, und der überzogene Kredit war real. Dinge wie Insolvenzen und Zwangsversteigerungen und Kinder, die in sozialen Brennpunkten aufwuchsen, gab es wirklich. Nicht irgendwo »da draußen«, sondern »hier drinnen«. In ihrem Leben.
    Die sechs Monate, die darauf gefolgt waren, gehörten zu den härtesten ihres Lebens. Sie suchte sich einen Job, sie tauschte ihren Wagen gegen einen kleineren Ford Ka ein, sie lernte, wie man Zinsen berechnete und Briefe an Banken schrieb. Sie heizte im Winter nur noch die Küche und Millies Zimmer und benutzte den Wäschetrockner nicht mehr. Seitdem war immer auf mindestens einer von Millies Schulblusen Vogeldreck, wenn sie sie von der Leine holte, und wenn

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