Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
war. Um Vergebung und Menschlichkeit. Er würde diesen Stamm zersägen und sich vorstellen, es sei Lornes Mörder, den er da zerlegte.
Auf einer Bank auf der Terrasse saß ein großer, traurig aussehender Junge und schaute ihr entgegen. Er hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und wippte leicht, als wolle er jeden Augenblick aufspringen. Er hatte dichtes, aschblondes Haar, und seine Chinos und das Sweatshirt, das er trug, sahen aus, als habe er darin geschlafen. Er musste Lornes Bruder sein, der über Nacht von der Universität in Durham nach Hause gefahren war. Er nickte ihr verlegen zu, hob die Hand und deutete zur Haustür und fuhr dann fort mit seinem nervösen Wippen.
Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Zoë schob sie weiter auf und kam in einen Flur voller gerahmter Fotos. Pferdefotos: Gymkhana-Parcours, Ponys beim Springen über schwierige Hindernisse – Triple-Oxer und Cross-Country-Wälle. Eine junge Lorne, die unter einer Reitkappe hervorgrinste, die Arme um den Hals eines schwarzen Ponys gelegt, dessen Stirnriemen voller Turnierschleifen war.
»Hallo?«
»Hier drinnen«, antwortete eine Stimme am Ende des Korridors. Zoë ging weiter und kam in die Küche. Der Familienbetreuer saß vor einem Computer, und Mrs. Wood stand an der Arbeitsplatte und kritzelte wie wild in einem kleinen Notizbuch. Sie trug eine Cordhose und ein »Joules Elephant«-Polohemd, und ihre lockigen Haarmassen waren zurückgebunden. Als sie sich umdrehte, bemerkte Zoë zwei Dinge. Erstens hatte Mrs. Philippa Wood früher Philippa Snow geheißen und war vor fast zwanzig Jahren mit ihr zusammen im Internat gewesen. Und zweitens hatte Mrs. Wood im Grunde noch nicht akzeptiert, dass ihre Tochter tot war. Sie lächelte grimmig und mit pragmatischem Gesichtsausdruck, als sei sie entschlossen, den Besuch der Polizei so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
»Pippa Wood.« Sie begrüßte Zoë mit einem festen Händedruck. Wenn sie sie erkannte, erwähnte sie es nicht. »Kaffee? Dauert nur einen Moment.«
Zoë wechselte einen Blick mit dem Familienbetreuer, und der signalisierte mit langsamem Kopfnicken: »Ich hab’s doch gesagt. Es ist noch nicht angekommen.«
»Ja bitte. Schwarz, mit zwei Stück Zucker.« Zoë verschränkte die Arme, lehnte sich an die Arbeitsplatte und sah zu, wie die Frau den Wasserkocher einschaltete und Tassen aus dem Schrank nahm. »Ich weiß, Sie haben gestern mit der Polizei gesprochen, Mrs. Wood, und auch am Tag davor, als Sie Lorne vermisst gemeldet haben. Sie dürfen nicht denken, dass wir Sie schikanieren wollen. Ich wollte nur wissen, ob sich über Nacht irgendetwas bei Ihnen ergeben hat. Ist Ihnen vielleicht noch etwas eingefallen? Gibt es in Ihrer Aussage etwas, das Sie ergänzen oder hinzufügen möchten?«
»Eigentlich nicht.« Pippa hielt ihr eine offene Keksdose mit Brownies und Löffelbiskuits hin. Zoë hatte seit Jahren keine Löffelbiskuits mehr gesehen. Sie nahm einen, und Pippa klappte den Deckel wieder zu. »Sie ist um eins aus der Schule gekommen. Samstags haben sie nur Halbtagsunterricht. Sie hat sich umgezogen und ist in die Stadt gegangen. Völlig normal.«
»Hat sie das oft getan?«
»Ja. Sie ist gern shoppen gegangen. Manche Läden im Zentrum sind bis sechs oder noch länger geöffnet.«
»Und sie hat nicht gesagt, dass sie sich mit jemandem treffen wollte?«
»Nein.« Sie nahm die Milch aus dem Kühlschrank. »Sie war gern allein unterwegs.«
»Was wollte sie kaufen?«
»Das Übliche. Kleidung. Natürlich war es in Wirklichkeit nur ein Schaufensterbummel; ich lasse sie kein Geld zum Fenster hinauswerfen. Sie wollte nach London und Model werden, und alles Geld, das ich ihr gegeben hätte, wäre für diese Spinnerei draufgegangen. Wir versuchen ihr den Wert des Geldes nahezubringen. Sie soll lernen, was vernünftige Ausgaben sind und was nicht. Aber bei Lorne geht so etwas zum einen Ohr rein und zum andern wieder raus. Ihr Bruder dagegen …« Sie schüttelte den Kopf, als sei das Leben ihr ein Rätsel. »Ist es nicht erstaunlich, wie zwei Kinder mit den gleichen Genen so unterschiedlich ausfallen können?«
»Was ist denn eine ›vernünftige‹ Ausgabe?«
Pippa musterte Zoë, als habe sie den Verdacht, das sei eine Fangfrage. »Na, Kleider jedenfalls nicht. Zumindest nicht die Sachen, die sie haben will. Etwas Praktisches, ja, vielleicht.« Zur Illustration schüttelte sie ihr eigenes Hosenbein. »Aber nicht das Glitzerzeug, das sie gut fand. Das fällt nach der
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