Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
Verletzungen? ›Der Schlag ins Gesicht ist ein klassisches Zeichen für Depersonalisierung.‹ Ich meine, Scheiße, Ben, die gleiche Verletzung siehst du bei ungefähr achtzig Prozent aller Überfälle, in denen wir ermitteln, und die meisten Opfer haben ihren Angreifer noch nie vorher gesehen. Erinnerst du dich an die Fotos, die sie uns in dem Kursus damals zum Thema Depersonalisierung gezeigt haben? Das war Depersonalisierung. Augäpfel ausgestochen. Zeug in die Stirn geritzt. Nasen abgeschnitten. Siebenundzwanzig einzelne Verletzungen im Gesicht. Aber Debbie ›nicht die Debbie‹ Harry erzählt uns, ein einzelner Schlag ins Gesicht …« Sie ließ den Satz in der Schwebe. Ben schüttelte nicht etwa betrübt den Kopf über diese entsetzliche Situation. Er saß nur schweigend da und beobachtete sie mit ausdruckslosem Blick.
»Was?«, fragte sie. »Was guckst du so? Du stimmst ihr doch nicht zu, oder?«
»Natürlich nicht. Sie hat uns wie Zweijährige behandelt.«
»Aber?«
»Was sie über das Geschreibsel gesagt hat, war nicht völlig abwegig. Einiges davon hatte durchaus was für sich.«
»Hatte durchaus was für sich?« Zoë starrte ihn mit offenem Mund an. Das war unglaublich, einfach unglaublich! »Nein. Das ist nur deine kleine Rache. Weil ich gestern Abend irgendwas gesagt habe, das dir nicht gepasst hat.«
»Ich sage es, weil es plausibel klingt.«
» Plausibel ? Versuch’s mal mit unverantwortlich . Hast du dir mal überlegt, wie gefährlich es ist, wenn wir die Fahndung auf einen Täter im Teenageralter reduzieren? All diese Neandertaler, denen in der Einsatzbesprechung beim Anblick eines Mädels in enger Hose die Zunge bis auf den Boden baumelte, die werden jetzt mit so stark eingeschränkten Parametern an die Arbeit gehen, dass der Mörder glattweg an ihnen vorbeispazieren kann, und wenn er nicht der weiße Middleclass-Privatschüler ist, der er nach Debbies Auffassung sein soll, dann geht er ihnen glatt durch die Lappen. Diese Theorie ist in vielerlei Hinicht falsch. Und ich habe kein gutes Gefühl dabei. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand, der so jung ist, zu so einer brutalen Tat fähig ist.«
»Da bin ich anderer Meinung.«
»Wir leben in einem freien Land, Ben. Und es ist gut, dass wir unterschiedlicher Meinung sind. Solange du nicht vergisst, jederzeit offen für alles zu bleiben. Das hat sogar Sonnenscheinchen gesagt.«
»Selbstverständlich. Selbstverständlich bleibe ich offen.« Er schob seine makellose Manschette zurück und schaute auf die Uhr. »So, es ist neun. Was übernimmst du?«
»Na, ich werde keine Schuljungen befragen, das verspreche ich dir. Vielleicht tue ich mal etwas wirklich Radikales – zum Beispiel könnte ich eine Ermittlung auf der Grundlage des vorliegenden Materials führen. So, wie wir es gelernt haben, weißt du? Ich könnte versuchen herauszufinden, von welchem Boot die Plane stammt.« Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. »Oder, noch besser, ich treffe mich mit dem Familienbetreuer und spreche mit der Familie Wood. Und du?«
»Alice Morecombe, die Freundin am Telefon. Ich muss herausfinden, worum es bei diesem letzten Gespräch gegangen ist. Und dann …«
Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Und dann?«
»Schnapp ich mir ein paar Leute und geh in die Schule. Um mit allen Jungs in Lornes Jahrgang zu sprechen – und mit denen im Jahrgang über ihr.«
Resigniert schüttelte sie den Kopf. »Heißt das, wir stehen auf Kriegsfuß miteinander?«
»Sei nicht albern. Wir sind erwachsen. Oder?«
Sie sah ihm fest in die Augen. »Das hoffe ich, Ben. Das hoffe ich wirklich.« Sie schaute ihn noch ein paar Sekunden länger an und warf dann einen Blick auf die Uhr. »Magst du heute Abend auf einen Drink vorbeikommen? Je nachdem, wie der Tag läuft?«
»Gern.« Er lächelte kurz, und dann drehte er seinen Monitor herum und gab sein Passwort ein.
»Dann bis später, ja?« Sie schaute seine Finger auf der Tastatur an. »Gegen sieben?«
»Gegen sieben.« Er wandte den Blick nicht vom Computer. »Einverstanden.«
14
Zoë wäre überall mit der Harley hingefahren, aber der Superintendent war entsetzt bei der Vorstellung, dass sie in Ledermontur zu Befragungen anrollte; also benutzte sie im Dienst ihr Auto, einen uralten Mondeo, den sie billig bekommen hatte, als die Polizei einen Teil ihres Fuhrparks abgestoßen hatte. Die Woods wohnten draußen bei Batheaston, und um dort hinzukommen, musste sie an der exklusiven Faulkener’s School
Weitere Kostenlose Bücher