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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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die Arme um die Schultern gelegt hatten, stiegen Gefühle in ihr herauf, die sie dazu brachten, leise in ihr Kissen zu weinen. Nach und nach fand sie heraus, dass sie die Wunde in ihrer Brust nicht mehr spürte, wenn sie sich an einer anderen Stelle ihres Körpers verletzte. Sie tat es überall da, wo die Hausmutter es nicht sehen konnte: auf den Oberschenkeln, am Bauch. Manchmal war morgens Blut an ihrem Pyjama. Dann schlich sie sich unter einem Vorwand in die Dusche, und da stand sie dann frierend und schäumte die verräterischen Flecken aus dem Stoff. Diese Gewohnheit hatte sie nie mehr abgelegt.
    Hör auf, dachte sie und riss den Ärmel herunter. Dumm dumm dumm. Aufhören. Das war nicht sie. Sie war die Person, die das Internat überlebt, die sich quer durch die Kontinente gekämpft und die sich in einer von Männern beherrschten Welt nach oben gearbeitet hatte. Es kam nicht darauf an, dass Ben heute Abend zum zweiten Mal hintereinander »zu viel zu tun« hatte, um zu ihr zu kommen. Er gehörte ihr ja nicht. Es war wirklich nicht so wichtig. Und nichts aus ihrer Vergangenheit würde sie nur wegen Lornes Fotos noch einmal heimsuchen.
    Sie schaltete das Licht aus, schloss die Tür vor der Katze, spülte ihren Teller vom Abendessen und die Töpfe ab und ging zu Bett. Lange lag sie im Dunkeln und widerstand dem Drang, ihre Arme zu berühren. Als sie endlich einschlief, war es ein unruhiger, immer wieder unterbrochener Schlaf, infiziert von Träumen und Unbehagen.
    Sie träumte von Wolken und Bergen und reißenden Flüssen. Sie träumte von einstürzenden Gebäuden und von einem Kahn, der auf der Seite lag und mit Wasser volllief. Und als dann die Sonne aufging und ihr Schlafzimmer sich mit Licht füllte, träumte sie von einem viktorianischen Kinderzimmer mit Buchstaben- und Zahlentafeln an der Wand und einem Schaukelpferd in der Ecke. Draußen warf eine altmodische Straßenlaterne ihr gelbes Licht auf den Schnee, der im Wind wehte. Die Flocken flogen in waagerechten Streifen an den Fensterscheiben vorbei. Die Umgebung war ihr zwar nicht vertraut, aber aus irgendeinem Grund wusste sie, dass es das Kinderzimmer war, das sie mit Sally geteilt hatte. Und sie wusste auch mit absoluter Gewissheit, dass es der Tag des »Unfalls« war. Der Tag, an dem sie heraufgekommen war und wutentbrannt festgestellt hatte, dass Sally ihr Bett, ihre Spielsachen und überhaupt alles, was ihr gehörte, mit idiotischen gelben Blumen bemalt hatte. Eine »Überraschung«. Um ihr eine Freude zu machen.
    Aber in dem Traum empfand Zoë keine Wut. Stattdessen packte sie Angst. Regelrechtes Grauen. Der Schnee, das Kinderzimmer, die Zahlen an der Wand – das alles drang auf sie ein, versuchte sie zu erdrücken. Und hinter ihr schrie ein Kind. Sie drehte sich um und sah, dass es Sally war. Ihr Gesicht war eine Maske des Entsetzens, und etwas Rotes rann von ihrer Hand. Mit der anderen Hand deutete sie angstvoll auf die Zahlen an der Wand, als sei es von lebenswichtiger Bedeutung, dass Zoë sie sah. »Sieh doch«, kreischte sie, »sieh dir die Zahlen an. Nummer eins, Nummer zwei, Nummer drei.«
    Zoë sah die Zahlentafel an und erkannte, dass sie sich verändert hatte. Es waren keine Zahlen mehr, die zum Lernen da waren, sondern es war das Schild der Zebedee Juice Agency, No. 1 Milsom Street.
    No. 1 … No. 1.
    Zoë fuhr hoch. Sie schnappte nach Luft, und ihr Herz raste. Es dauerte einen Moment, bis sie wusste, wo sie war. Zu Hause in ihrem Bett.
    Es war hell draußen, und Sonnenlicht betüpfelte die Decke. No. 1. No one. Number one. Nummer eins . Jetzt hatte sie es. Es hatte in ihrem Hinterkopf rumort, als sie bei Zebedee Juice gewesen war, und jetzt wusste sie, warum. Es war das, was der Mörder auf Lornes Bauch geschrieben hatte. Sie raffte ihr Telefon an sich. Die Uhrzeit auf dem Display war zehn vor acht. Sie hatte sieben Stunden geschlafen. In vierzig Minuten war Teambesprechung. Aber diesmal wäre es nicht Debbie Harry, die vorn stände und redete. Sondern Zoë.
    Sie duschte hastig, kippte zwei Tassen Kaffee herunter, ließ die Katze heraus und verscheuchte sie, als sie den Kopf an ihrem Knöchel reiben wollte, und als sie um Punkt halb neun auf das Revier kam, hatte die Besprechung schon angefangen. Jemand hatte eine Serie Fotos vergrößert – sämtliche registrierten Sexualstraftäter unter fünfundzwanzig, die in der Gegend wohnten – und an die Wand gepinnt. Ein Detective Sergeant berichtete dem Team die Geschichte eines jeden

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