Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
geheim zu halten. Aber jetzt ist es raus, und es ist ja auch keine große Sache. Ich meine, er ist mit ihr gegangen, aber er hat sie nicht umgebracht , Mum. Damit hatte er nichts zu tun.«
Isabelle hatte also recht, dachte Sally. Mit dem Geheimnis. Dem Geflüster. Wie war es dazu gekommen, dass die Kinder, die sie geboren hatten, sich von lockigen Babys, die auf ihrem Schoß saßen, zu vollständigen Menschenwesen mit Geheimnissen und eigenen Gesetzen und Plänen entwickelt hatten?
»Er ist auf dem Revier geblieben. Bei Tante Zoë. Sie war irgendwie so nett zu ihm. Total nett.«
Sally hörte den bewundernden Unterton. Unverkennbar. Sie kannte das Gefühl, Zoë zu bewundern. »Wie geht’s ihr denn? Zoë, meine ich.«
»Gut.« Millie zog die Nase hoch. »Ihr geht’s gut.«
»Gut?«
»Sag ich doch.«
»Wie sah sie aus?«
»Was meinst du damit?«
»Ich weiß nicht.« Sally zögerte. »Ist sie groß? Vor Jahren kam sie mir immer sehr groß vor.«
»Ja«, sagte Millie. »Ist sie. Echt groß. Richtig, richtig groß. Wie ich es auch gern wäre.«
»Wie sieht ihr Haar aus? Sie hatte tolle Haare.«
»Hat sie immer noch. Wie meine – irgendwie rötlich. Ein bisschen verrückt, ehrlich gesagt – und sie sahen nass aus. Warum?«
»Ich weiß nicht. Reine Neugier.« Sie lächelte kurz und wehmütig. »Sie ist gut in ihrem Job, nehme ich an. Sie ist wirklich gescheit, weißt du. Man würde nie glauben, dass wir verwandt sind.«
»Sie hat ein eigenes Büro und so. Aber sie sieht nicht aus wie der Typ, der im Büro sitzt.«
»Warum?«
»Ach, ich weiß nicht. Sie ist …« Millie suchte nach dem richtigen Wort und fand es nicht. »Sie ist einfach zu cool, um bei der Polizei zu sein. Das ist alles. Sie ist einfach zu cool.«
33
Die Damentoilette mit dem höchsten Maß an Ungestörtheit im Polizeirevier Bath war die im Erdgeschoss, in der Nähe des Empfangs. Zoë ging durch das Foyer – mit gesenktem Kopf für den Fall, dass jemand sie sehen sollte – und stieß die Tür auf. Niemand war da. Es roch nach Putzmittel, und man hörte das unbestimmte Plinkern eines undichten Spülkastens in einer der Kabinen. Sie ignorierte ihr Spiegelbild und ging an der Reihe der Türen vorbei bis zur letzten, ganz am Ende. Rasch trat sie in die Kabine, klappte den Klodeckel herunter, verriegelte die Tür, zog die Jacke aus und warf sie auf den Boden. Dann setzte sie sich, stützte die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf auf die Hände.
Tatsächlich tu ich das bereits …
Es ging sie nichts an, mit wem Ben schlief. Sie hatten einander in dieser Hinsicht nie etwas versprochen. Es war nie ein Teil der Abmachung gewesen. Aber es war auch nicht Teil der Abmachung gewesen, dass er sie so kühl behandelte, wie er es getan hatte. Sie kannte ihn seit Jahren. Jahrelang hatten sie zusammengearbeitet, bevor sie angefangen hatten, miteinander zu schlafen. Er sollte sie inzwischen kennen. Was also hatte sich geändert? Es war unmöglich, dass er einen Blick in sie hineingeworfen und das scheußliche dunkle Ding gesehen hatte, das sie mit so viel Mühe niederdrückte. Nein, das war unmöglich. Sie war sicher, dass er es nicht sehen konnte. Aber was war es dann?
Sie krempelte ihren Ärmel hoch, rollte ihn fest um den Bizeps, wie ein Junkie es tun würde. Sie suchte einen unversehrten Quadratzentimeter Haut und fasste mit den Nägeln von Daumen und Zeigefinger ein halbmondförmiges Stück davon. Sie schloss die Augen und bohrte die Nägel hinein. Fester und immer fester. Der Schmerz war wie ein süßer schwarzer Faden, der sich durch ihren Körper schlängelte. Wie eine Droge. Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete langsam, während der Faden ihre Brust heraufkam und sich um ihre Lunge und ihr Herz schlang, bis alles dunkel und still wurde. Das Blut quoll aus der gepeinigten Haut, rollte kalt an ihrem Arm herunter und klatschte auf die weißen Fliesen. Sie ließ nicht los. Hielt einfach fest. Hielt und hielt weiter fest.
Und schließlich, als sie sicher war, dass sie den Schrei unterdrückt hatte, ließ sie die Hand sinken. Sie öffnete die Augen und schaute blinzelnd in das weiße Licht, sah das Blut an ihren Fingernägeln und die kalte Kunststoffbeschichtung der Toilettentür.
Ben zählte nicht. Er war nicht wichtig. Es würde Krieg geben, aber der würde langsam vorübergehen. Sie war erschöpft, ausgelaugt von diesem Fall, und sie brauchte Platz zum Atmen. Sie würde ein paar Tage freinehmen – Urlaub hatte sie weiß Gott genug
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