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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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angesammelt. Sie würde sich auf die Harley setzen und für eine Weile verschwinden. Im Freien schlafen und Guinness aus der Dose trinken. Den Fall vergessen, sich nicht mehr dafür interessieren, wer Lorne ermordet hatte, sich die Erinnerung an diesen Nightclub in Bristol vom Fahrtwind auf der Autobahn aus dem Kopf blasen lassen.
    Sie wickelte ein Knäuel Toilettenpapier von der Rolle und fing an, sich zu säubern. Als sie das Blut vom Boden aufwischte, sah sie, dass ihre Brieftasche aus der Jacke gerutscht war. Sie hielt inne und ließ den Papierklumpen auf dem Boden liegen. Aus einem der Fächer ihrer Brieftasche ragte der pinkfarbene, gerundete Rand einer Karte heraus. Die Visitenkarte, die sie bei Zebedee Juice bekommen hatte.
    » Scheiße .« Sie richtete sich auf und lehnte sich an den Spülkasten. Das blutige Klopapier hing schlaff zwischen ihren Fingern, und ihr Kopf rollte hin und her. Die Leuchtstoffröhren pulsierten über ihr an der Decke. »Okay, Lorne«, murmelte sie. Okay. Ich gebe dir noch einen Tag. Noch zwölf Stunden. Und dann, tut mir leid – dann bin ich draußen.«

34
    Als Sally aus Millies Zimmer kam, sah sie zu ihrer Überraschung Nial in der Küche. Verlegen stand er am Tisch, mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf. »Ich dachte, ihr seid weg«, sagte sie.
    »Ja, ich … ich musste mich mal verdünnisieren.« Er deutete aus dem Fenster zu seinem Bus. »Die brauchten ein bisschen Zeit. Wissen Sie, bevor ich Peter zu Hause absetze.«
    Sie schaute hinaus und sah Peter und Sophie eng umschlungen auf dem Rücksitz. Sie küssten sich. Anscheinend war Peter aufgestanden, denn er wirkte jetzt viel größer als Sophie, und er beugte sich über sie und drückte sie mit dem Mund tief in den Sitz. Sophie wehrte sich nicht – ganz im Gegenteil, sie umklammerte seinen Nacken fester, als habe sie Angst, er könne gleich wieder verschwinden. Ein paar Augenblicke lang herrschte unbehagliches Schweigen. Dann räusperte Nial sich leise und sagte mit dünner Stimme: »Sie ist verliebt in ihn, nicht wahr?«
    »Sieht jedenfalls so aus.«
    »Ich meine nicht Sophie, ich meine Millie. Sie ist verliebt in Peter.«
    Hölzern drehte sie sich um. Sie konnte kaum glauben, was er da anscheinend sagen wollte. »Nial?«, fragte sie verwundert. »Du meinst doch nicht …«
    Er lächelte matt und verlegen. »Na ja – ich kann ja nichts dran machen, oder?«
    Sie starrte ihn an. Du lieber Gott, was für ein Schlamassel. Nirgends Gegenseitigkeit, nirgends Erwiderung. Sophie verliebt in Peter, Millie verliebt in Peter, und Nial verliebt in Millie. Der arme kleine Nial. Es war wie die Elefanten in der Manege: Jeder hielt den Schwanz des Tieres vor ihm mit dem Rüssel fest, und sie stapften blindlings voran, ohne zu ahnen, wie vergeblich das alles war. Wirklich und wahrhaftig, das Leben war einfach ungerecht.
    Sie seufzte. »O Gott, du hast wahrscheinlich recht. Im Moment jedenfalls. Aber warte nur ab. Warte ab.«
    »Wieso?«
    »Eines Tages, Nial, wird Millie dich in einem anderen Licht sehen. Das verspreche ich dir.«
    Er klapperte mit den Lidern. »Wirklich?«
    »O ja. O ja.« Und bei diesen Worten betete sie mit aller Hoffnung, die sie aufbringen konnte, dass sie recht haben möge.

35
    Zoë hatte am Abend eine Schlaftablette genommen; sie hatte etwas gebraucht, irgendetwas, das ihr half, der hartnäckigen Stimme in ihrem Kopf zu entrinnen. Anfangs war sie ein Segen gewesen und hatte sie in den Abgrund des Vergessens gleiten lassen. Aber fünf Stunden später fuhr sie mit einem Ruck aus dem Schlaf; das erste Licht des Morgens schimmerte durch das Fenster, und sie verspürte denselben krallenden Schmerz in ihrer Mitte, mit dem sie eingeschlafen war. Sie schaute nicht in den Spiegel, als sie sich anzog. Sie setzte sich auf die Bettkante und wickelte sorgfältig einen Verband um die Wunde an ihrem Arm. Das Ende der Mullbinde hielt sie mit den Zähnen fest. Sie entschied sich für eine Bluse aus schwerer Baumwolle mit Ärmeln, die an den Handgelenken mit Knöpfen verschlossen wurden. Vorsichtig schob sie den Arm hinein, damit die Wunde nicht noch einmal blutete. Darin war sie geübt.
    Um sich aufzumuntern, ließ sie das Radio laufen, als sie durch die Stadt fuhr, aber der Anblick der verschlissenen Tafel an der Tür zu »Holden’s Agency« gab ihr einen weiteren Dämpfer. Die Stufen, die zur Eingangstür hinaufführten, waren übersät von plattgetretenen Kaugummis und Gott weiß was für Flecken. Sie zögerte und empfand

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