Atevi 1 - Fremdling
Freundschaft. Ein jeder war sich und seinem Schicksal selbst überlassen. Und er als Paidhi hatte die Aufgabe, ein solches Verhalten zu verstehen und den Menschen erklärlich zu machen.
Doch Bren weigerte sich, Regeln anzuerkennen, die von ihm verlangten, einen anderen hilflos sterben zu lassen. Und er konnte und wollte nicht nachvollziehen, was Banichi veranlaßte, ihn deswegen zu tadeln.
Alle hatten inzwischen ihre Mecheiti bestiegen. Der Troß setzte sich in Bewegung. Nokhada würde gewiß nicht auf ihn warten; das war ihm bewußt, und er konnte sich ausmalen, wie man ihm begegnen würde, wenn die Gruppe seinetwegen ins Stocken geriete. Er hastete den glitschigen Hang hinauf, und als er Nokhada erreicht hatte, sah er, daß ihm Jago gefolgt war. Sie zog ihr Mecheita am Zügel hinter sich her.
»Nadi«, sagte sie mit unverhohlener Wut. »Hüten Sie sich. Ihre Besserwisserei geht uns gegen den Strich. Tabini-ji hat Ihnen klare Anweisungen gegeben. Halten Sie sich gefälligst daran.«
Bren streifte den Regenumhang und den Ärmel der Jacke hoch, um ihr einige der blauen Flecke zu zeigen, die ihm während der vergangenen Nacht zugefügt worden waren. »Das habe ich von der Gastlichkeit, die mir zugesichert wurde, davon, daß ich der Aiji-Mutter wahrheitsgemäß Rede und Antwort gestanden habe. Ich trage keine Schuld an dem, was passiert ist, und frage mich allen Ernstes, weshalb auch noch Sie, ausgerechnet Sie auf mir herumhacken.«
Jago schleuderte ihm ihre Hand ins Gesicht, so wuchtig, daß er gegen Nokhadas Rippen prallte.
»Tun Sie, was von Ihnen verlangt wird!« sagte Jago. »Noch irgendwelche Fragen, Nadi?«
»Nein«, antwortete er und schmeckte Blut. Seine Augen wässerten, und er sah nur noch ein verschwommenes Bild von Jago, die sich von ihm abwandte und ihr Mecheita bestieg.
Er schlug Nokhadas Schulter fester als nötig. Sie ging in die Knie und ließ ihn aufsitzen. Wütend zerrte er den Regenumhang unter sich weg und trat dem Tier in die Flanken, um es in Bewegung zu setzen. Geduckt ritt er los und schützte sich mit erhobener Hand vor tiefhängenden Zweigen.
Jago hatte nicht voll zugeschlagen. Schmerzlicher als der Hieb vor den Mund war die Wut – ihre, aber auch die eigene.
Was hatte er denn gesagt oder getan? Waren denn seine Fragen an Banichi wirklich Anlaß genug für so viel Ärger? Wohl kaum, aber offenbar hatte er an irgendeine wunde Stelle gerührt. Wenn er alle persönlichen Gefühle außen vor ließe und nüchtern nachzudenken versuchte, würde er vielleicht Aufschluß darüber finden. Er mußte sich an den genauen Wortlaut seiner Fragen erinnern, an alles, was gesagt worden war. Das gehörte zu seinem Job, so schwer er ihm auch gemacht wurde.
In Gedanken kehrte er auf Ilisidis Balkon zurück, in den schneidenden Wind, die Dunkelheit, da Ilisidi ihn mit Tatsachen konfrontiert hatte, die er kaum für wahr halten konnte.
Und er war allein in den Bergen, blickte über tief verschneite Hänge…
… am Fuß des Hügels mit Jago, die Banichi im Stich gelassen hatte und ihn, Bren, davon abzuhalten versuchte, ihren Partner zu retten… und im schwarzen Feuerqualm von allen Seiten beschossen.
Und dann war er wieder im Keller, heillosem Schrecken ausgesetzt. So schoben sich die Bilder übereinander, in einer Reihenfolge, für die er keine Erklärung wußte. Vielleicht, räsonierte Bren, reagierte sein Unterbewußtsein; es war doch ganz natürlich, daß es das Trauma der vergangenen Nacht zu bewältigen versuchte. Doch das lenkte ihn ab von dem, was im Augenblick geschah, und er befand sich beileibe noch nicht in Sicherheit, auch wenn zur Zeit keine Bomben mehr fielen. Er mußte sich unvermindert konzentrieren und achtgeben auf die alarmierenden Signale im Hier und Jetzt.
Banichi hatte es gewagt, Ilisidi auf die Aufrüstung der Flugzeuge zu Jagdbombern anzusprechen. Er hatte gebohrt und war fündig geworden. Was wissen Sie denn schon? war Ilisidis Replik gewesen, und Banichi hatte behauptet, Tabinis Pläne nicht zu kennen. Ja, er hatte sie indirekt dazu aufgerufen, ihn in den Keller zerren und foltern zu lassen, um ihr seine Standfestigkeit unter Beweis stellen zu können.
Was hatte Banichi zu dieser Auseinandersetzung veranlaßt? Wie war Ilisidis Reaktion darauf zu verstehen?
Bren verrannte sich in seinen Gedanken. Er fand kein Packende unter all den losen Enden, die immer mehr wurden und ihn zusätzlich ängstigten, von Leuten umgeben zu sein, die ein Geheimnis um sich machten.
Jago
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