Atevi 1 - Fremdling
Nähe zu sein. Womöglich war der Tee gar nicht bestellt worden und der Wunsch danach eine plötzliche Laune der Alten.
»Cenedi!« zeterte sie. »Hören Sie mich?«
Womöglich war Cenedi schon zwanzig Jahre tot, dachte Bren. Wie ein Kind hockte er auf dem Schemel; er hatte die Arme um die Knie geschlungen und die Schultern eingezogen, gefaßt darauf, daß der Alten plötzlich einfallen könnte, auf ihn einzudreschen.
Zu seiner Erleichterung kreuzte schließlich ein Ateva auf, den Bren auf den ersten Blick mit Banichi verwechselte. Er trug die gleiche schwarze Uniform, war aber sichtlich älter, hatte Falten im Gesicht und graumelierte Haare.
»Zwei Tassen«, verlangte Ilisidi unwirsch.
»Sehr wohl.«
Cenedi, vermutete Bren. Er hatte schon gefrühstückt – in vier Gängen – und wollte keinen Tee. Vielmehr wollte er das Weite suchen, sich den unangenehmen Fragen der Alten entziehen sowie der Gefahr, etwas Falsches zu sagen, Ärger zu provozieren und Banichi in Schwierigkeiten zu bringen.
Oder Tabini.
Wenn, wie behauptet wurde, Ilisidi tatsächlich im Sterben lag, war zu befürchten, daß sie, verbittert wie sie war, mit der Welt abzurechnen versuchte.
Auf einem Tablett brachte Cenedi zwei Tassen und eine Kanne, schenkte ein und bediente die Alte, die ihre Tasse mit ausgestreckter Hand entgegennahm. Bren konnte die ihm gereichte nicht ausschlagen und erinnerte sich unwillkürlich an das, was jedes Atevikind von seinen Eltern zu hören bekam: Nimm nichts von Fremden an und laß dich nicht ein mit ihnen…
Ilisidi schlürfte Tee und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Er hatte den Eindruck, als machte sie sich lustig über ihn. Vielleicht hielt sie ihn für einen Narren, weil er die Tasse nicht unverzüglich absetzte und Banichi zur Hilfe rief oder weil er sich auf ein Streitgespräch eingelassen hatte, ausgerechnet mit ihr, die von nicht wenigen Atevi gefürchtet wurde.
Er nahm einen Schluck. Zu fliehen kam nicht in Betracht. Er beobachtete die Alte über den Tassenrand hinweg, und da keine alarmierende Wirkung aus Tasse oder Tee zu spüren war, riskierte er einen zweiten Schluck.
Als sie trank, verdichtete sich um ihre Augen das Netz aus Runzeln. Ihren Mund konnte er nicht sehen, und als sie die Tasse senkte, glättete sich die Haut wieder ein wenig; zurück blieben nur die Spuren der Jahre und Ambitionen, ein Labyrinth aus Furchen, überhöht vom Feuerschein auf ihrem schwarzglänzenden Gesicht.
»Und welche Laster leistet sich der Paidhi in seiner Freizeit? Spielt er um Geld? Oder treibt er Sex mit seinen Dienerinnen?«
»Der Paidhi ist immer im Dienst und entsprechend umsichtig.«
»Etwa auch keusch?« Sie war nicht neugierig, sondern wollte mit ihrer Frage befangen machen.
»Mospheira ist mit dem Flugzeug leicht zu erreichen, und dort verbringe ich meinen Urlaub.« Er fühlte sich nicht dazu aufgerufen, aus seinem Leben zu erzählen, gab aber lieber Auskunft, als daß er sich weiteren Fragen stellte. »Das letzte Mal war ich dort am 28sten Madara.«
»Aha.« Sie nippte am Tee und spreizte die langen, dürren Finger. »Und da sind Ihnen doch bestimmt die perversesten Dinge untergekommen.«
»Ich habe meine Mutter und meinen Bruder besucht.«
»Und Ihr Vater? Was ist mit dem?«
Mit der Antwort tat er sich schwer. »Lebt getrennt von der Familie.«
»Und dennoch auf der Insel?«
»Wir tragen keine Fehden aus. Konflikte werden gesetzlich geregelt.«
»Wie kaltblütig.«
»In der Geschichte der Menschen gab’s auch das Fehderecht.«
»Aha, und in ihrer großen Weisheit haben die Menschen davon Abstand genommen«, entgegnete sie mit unverhohlenem Spott.
Er hatte ein Minenfeld betreten, auf dem er sich bestens auskannte, betrachtete sie mit festem Blick und sagte: »Es ist die Aufgabe eines Paidhi zu beraten. Wenn der Aiji unseren Rat verwirft…«
»… warten Sie auf einen neuen Aiji oder man wechselt den Paidhi aus«, ergänzte sie. »Wie auch immer, am Ende hat sich Mospheira durchgesetzt.« Mit deutlichen Worten sprach sie aus, was vermutlich die unterschwellige Meinung der meisten Atevi war.
»Die Zeiten ändern sich, nand’ Aiji-Mutter.«
»Ihr Tee wird kalt.«
Er nahm einen Schluck. Der Tee kühlte tatsächlich schnell ab in den kleinen Tassen. Er fragte sich, ob sie wußte, warum er in Malguri war. So abgeschieden von der Welt, wie ursprünglich angenommen, war die alte Dame offenbar doch nicht.
Ilisidi leerte ihre Tasse und schleuderte sie in den Kamin. Das Porzellan
Weitere Kostenlose Bücher