Atevi 2 - Eroberer
einiges investieren müssen für die Einsicht, daß ihre Sonne nur ein Stern unter vielen ist. Die geschichtlichen Kenntnisse des Paidhi reichten zwar nicht, um Genaueres zu wissen, aber er ahnte, daß damals manche alten Glaubensvorstellungen auf der Strecke geblieben waren.
Nun, den Atevi drohten, wie zu fürchten war, womöglich noch sehr viel radikalere Verwerfungen, da ihre kulturellen und sozialen Normen nicht bloß aufgesetzt oder verordnet waren, sondern sozusagen fest eingebaut, intrinsisch verwurzelt.
Bren wollte nicht länger darüber nachdenken.
Er stand auf und wanderte durch die Räume, bis hin zur Bibliothek, wo er, um sich abzulenken, wahllos ein Buch aus dem Regal nahm und darin blätterte. Ein Buch über Wasserpflanzen, kostbar eingebunden und mit Aquarellen illustriert.
Saidin kam und fragte, wo er sein Abendessen einzunehmen wünsche und ob er seine persönlichen Diener zu Tisch erwarte.
Bren wußte keine Antwort. Über das, was seine Leute vorhatten, war er nicht informiert, und ans Essen dachte er im Moment am allerwenigsten. »Vielleicht warten wir noch ein wenig mit dem Essen. Ich hoffe, das macht Ihnen keine Umstände, nand’ Saidin.«
»Aber nein«, antwortete sie und verbeugte sich. »Gefallen Ihnen Wassergärten?«
Das Buch. Natürlich. »Ich bewundere die schönen Illustrationen.«
»Haben Sie schon mal die Terrassen gesehen.«
»Die von Saisuran? Leider nein. Für Ausflüge bleibt mir nicht viel Zeit.«
»Schade. Aber falls Sie einmal die Gelegenheit haben sollten, nutzen Sie sie. Es ist ein lohnendes Ziel. Ganz in der Nähe liegt auch der berühmte Park von Isgrai’the.«
Daß sie diese persönlichen Worte an ihn richtete, überraschte Bren. Anscheinend war das Buch der Anlaß, der Hinweis auf ein gemeinsames Interesse, über das sich unbefangen plaudern ließ.
Oder wollte sie ihm etwa auf den Zahn fühlen, womöglich im Auftrag Ilisidis? Ach, dieser verdammte Argwohn. Wilson grüßte, dieser Mann, der niemals lachte oder auch nur lächelte.
»Danke für den Rat, nand’ Saidin. Ja, ich hoffe, daß ich einmal dorthin fahren kann.«
»Das wünsche ich Ihnen, nand’ Paidhi«, sagte Saidin und verließ den Raum. Und Bren war wieder auf seine Grübeleien zurückgeworfen. Was wußte diese Frau über ihn und die Probleme, mit denen er sich herumschlug? Machte er einen so verzweifelten Eindruck, daß sie sich aus Gastlichkeit bemüßigt fühlte, auf ihn acht zu geben?
Er wußte um die Irrwege, auf die er sich in Gedanken immer wieder einließ, um die Aussichtslosigkeit seiner Suche nach Korrespondenzen zwischen atevischen und menschlichen Empfindungen. Er kam sich vor wie einer, der keinen festen Grund unter den Füßen hat und von einem glitschigen Stein auf den nächsten zu springen versucht – dieses Bild drängte sich ihm auf mit Blick auf eine Illustration des Buches: Wasserpflanzen und flache Steine, kaum erkennbar unter spiegelnder Wasseroberfläche.
Er erinnerte sich, als zwölfjähriger Junge am Ufer eines Gebirgsflusses entlangmarschiert zu sein, über Steine, die im Frühjahr überflutet waren, immer höher hinauf, dem Wasserfall entgegen, von dem er gehört hatte und den er unbedingt sehen wollte, ganz aus der Nähe, da, wo die Wassermassen nach tiefem Sturz von der Felswand donnernd auftrafen und zerstäubten. Die rasende Gischt rührte einen Wind auf, der an den triefenden Bäumen ringsum rüttelte und ihn naß machte bis auf die Haut. Auf dem weiten Weg zurück zur Hütte wäre er fast umgekommen vor Kälte. Er wußte um die Gefahren im Gebirge, hatte von grausigen Unfällen erfahren, die unachtsamen Touristen widerfahren waren. Doch daß ihm dergleichen passieren könnte, war ihm in seinen jungen Jahren unvorstellbar. Zum Glück kam ihm auf halbem Weg ein Ranger entgegen, der ihm einen warmen Poncho überzog. Er schimpfte fürchterlich und nannte ihn einen dummen Jungen.
Ja, er mußte einsehen, daß es viel zu riskant gewesen war, ohne Begleitung dort hinaufzusteigen in diesen Hexenkessel aus wirbelndem Wassernebel und glitschigem Fels. Wie leicht hätte er ausrutschen und stürzen können. Trotzdem, es war herrlich dort oben gewesen; er ahnte, etwas erlebt zu haben, das er zeit seines Lebens nicht vergessen würde. Und er hatte den Verdacht, daß ihm der Ranger diese Erfahrung nicht gönnte und daß es dem nur darum ging, die Natur und das Wild vor neugierigen Touristen zu schützen.
In die Hütte zurückgekehrt, gab man ihm zu essen, und als seine Sachen
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