Atevi 3 - Erbe
Meer sehe?«
Bren wollte nicht eigens darauf hinweisen, doch Jason tat sich immer noch in seiner Bewegung schwer, weil er Orientierungsprobleme hatte, die vor allem auf einen eingeschränkten Blickwinkel zurückzuführen waren. Aber er weigerte sich, einen atevischen Arzt zu konsultieren. Die Welt habe keine Kanten, sagte er.
Später beschrieb er seine Welt als eine Ansammlung von Korridoren und kleinen Zimmern.
»Ich kenne da ein schönes Fleckchen«, meinte Bren und dachte daran, Lord Geigi mit einem zusätzlichen Gast zu überraschen.
Doch eine Bootsfahrt war Jason wohl noch nicht zuzumuten.
»Wann kann es losgehen? Bald?«
»Ja, bald. Aber vorher wäre noch einiges zu regeln. Und ich möchte dich um etwas bitten.«
»Was?«
»Morgen kommt Besuch, ein sehr wichtiger Besuch, der sich hier im Appartement umschauen wird.«
»Warum?« fragte Jason. »Was will er?«
»Es ist nur für eine Nacht. Er schaut sich hier um und geht dann wieder. Er hält es sehr genau. Sehr kabiu. Ihm gehört die Wohnung, verstehst du? Es ist wichtig, daß wir als seine Gäste einen guten Eindruck auf ihn machen.«
»Du willst sagen, daß ich nur ja keinen Fehler machen darf.«
»Richtig.«
»Bekomme ich mein Meer?«
»Wenn du mir vorher den Gefallen tust und dich gut aufführst.«
»Einverstanden. Unter der Bedingung, daß ich das Meer sehen werde.«
Vielleicht, dachte Bren, hat er davon schon im Schiff geträumt. Vielleicht hatte schon der Vater vor ihm diesen Wunsch geäußert.
Wie auch immer, Jason würde sich, auch wenn es ihm schwerfiel, zusammenreißen. Das war schon jetzt zu spüren. Er sah kränklich aus, und die Hände zitterten, als er vor die Spiegelkommode trat und sein Haar in Ordnung zu bringen versuchte.
»Soll ich Tee kommen lassen?« fragte Bren. »Wir könnten uns eine Weile zusammensetzen, ich könnte dir was von dem Besucher erzählen und über die Situation, in der wir uns befinden.«
»Ja.« Jason wechselte von selbst auf ragi über. Er stellte sich noch ein wenig ungeschickt an beim Flechten des Zopfes, gab sich aber Mühe, und klemmte das Haar mit einem einfachen Clip fest. »Ich bitte darum, Nadi.«
An den Manieren war nichts zu beanstanden, an der Aussprache kaum etwas. Jason hatte fleißig geübt.
Bren ging hinaus in die Halle, wo er Madam Saidin und Tano antraf, und sagte: »Wir hätten gern Tee, Nadiin-ji.« Er konnte sich darauf verlassen, schnell bedient zu werden.
Das Gespräch nahm einen erstaunlich guten Verlauf, das heißt, Jason hörte aufmerksam zu, widersprach nicht, stellte die richtigen Fragen an der richtigen Stelle und zeigte für alles Verständnis.
Zu sehen, wie sehr er sich trotz seines Kummers Mühe gab, den Ausführungen zu folgen, war anrührend und stimmte irgendwie traurig, so auch das Wissen darum, daß er fast zwanghaft nach absoluter Ordnung verlangte. Bren dachte, ohne ein Wort darüber zu verlieren, daß er ihm in diesem Bedürfnis gewissermaßen entgegenkam durch seine Vorschriften im Hinblick auf Kleidung und Etikette.
Doch nun ging es im besonderen Fall um das richtige Verhalten gegenüber einem Lord und einer Lady, die die schärfste Rivalin dieses Lords war und darüber hinaus um den protokollarischen Umgang mit dem Aiji von Shejidan, den Jason unter weniger zeremoniellen Umständen kennengelernt hatte, nämlich nach der Landung, als am Horizont der Busch brannte, brackiges Wasser in seine Kapsel strömte und die ganze Welt kopfzustehen schien.
Jasons Miene klarte auf, als Bren schließlich auf Lord Geigis Balkon zu sprechen kam, wirkte allerdings ein wenig schockiert bei der Schilderung sportlichen Fischfangs und des Kolosses am Haken, vor dem Geigis Bootsleute vor Angst Reißaus genommen hatten.
Jason wollte dann einen Blick auf die Landkarte im Büro werfen, und gemeinsam gingen sie in den hinteren Teil der Wohnung, da, wo die Metallwand eingezogen worden war, um zu sehen, wo sie sich befanden, wo das Meer, wo Mospheira und die Berge von Taiben lagen: das Südmassiv, eines der größten Jagdreviere überhaupt, wo Jason in seiner Kapsel gelandet war. Es dauerte nicht lange, und er hatte die Stelle auf der Karte gefunden.
Dann bat er um Literatur über das Meer. Bren führte ihn in Lady Damiris Bibliothek.
»Wie geht’s ihm?« fragte Banichi, als er Bren vor der Bibliothek über den Weg lief, und Jason drinnen in Büchern stöberte. »Wonach sucht er?«
Bren holte tief Luft. Er ahnte, was in seinem jungen Kollegen vorging, wußte aber nicht, wie er
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