Atlantis in London
Portier wachte darüber, dass nur die richtigen Leute das Haus betraten.
Ich trug ihm meinen Wunsch vor. Er schaute mich derweil mit wichtiger Miene an, bevor er zum Hörer griff und in der Firma anrief. Ich musste noch den Grund meines Besuches nennen, dann durfte ich in den Aufzug steigen und hochfahren.
Der Fahrstuhl besaß noch ein altes Gitter. Ich kam mir vor wie in einer fahrenden Zelle.
Ein breiter Gang, hell gestrichene Wände, ein Teppich, der Schritte dämpfte, und weiches Licht schufen eine vornehme Atmosphäre. Das Büro der Firma lag auf der rechten Gangseite. An der Tür mit er Aufschrift Anmeldung klopfte ich und erwartete, von einer Sekretärin in Empfang genommen zu werden. Dem war nicht so. Hinter seinem Schreibtisch hockte ein männliches Wesen. Ein junger Mann in roter Jacke, weißem Hemd und einem mit blumigen Motiven verzierten Binder.
Er rückte seine Brille zurecht. »Sie haben Glück, Sir. Mr. Polydor hat einige Minuten Zeit. Er erwartet Sie. Sonst müssen sich unsere Kunden Tage zuvor anmelden.«
»Haben Sie so gut zu tun?«
»Das kann man sagen«, antwortete er und strich über sein glattes, sorgfältig gescheiteltes Blondhaar.
»Dann habe ich mich doch an die richtige Adresse gewandt.«
»Wir haben immer eine Lösung.«
»Da bin ich gespannt.«
Er stand auf, ging vor und klopfte an eine Tür. Er öffnete, und ich brauchte mich nicht mehr anzumelden, denn mein Besuch hatte sich bereits bis zu Mr. Polydor herumgesprochen.
Sein Assistent deutete durch eine Handbewegung an, dass ich gehen konnte, und ich blieb stehen, als ich zwei Schritte in den ziemlich großen Raum hineingegangen war.
Nicht Polydor interessierte mich. Es war das Bild hinter ihm, das die Wand von einem Ende bis zum anderen bedeckte.
Ein irres, ein unheimliches, ein wahnsinniges Gemälde. Es zeigte ein Motiv, dass überhaupt nicht in diese Londoner Landschaft hineinpasste, weil es geradewegs das Gegenteil darstellte.
Der Hintergrund des Bildes war in einem tiefen Blau gemalt worden. Davor zeichneten sich kantige, dunkle Felsen ab. Einer davon sah aus wie eine Brücke.
Auf der höchsten Stelle stand eine Gestalt. Groß, kräftig, hochaufgerichtet. Sie war nackt bis auf einen Lendenschurz und mit dem linken Bein an den Felsen gekettet. Vom Gesicht der Gestalt sah ich nichts, weil der gesamte Kopf von einer eisernen Maske bedeckt wurde, die hinabreichte bis zu den Schultern.
Das alles hätte mich nicht einmal gestört. Jeder konnte sein Bild so malen wie er wollte. Es war etwas anderes, das in mir einen Verdacht hochschnellen ließ.
Der Mann besaß keine Arme. Jedenfalls konnte ich keine erkennen. Dafür aber zwei gewaltige Flügel, die seine Arme ersetzten. Im Vergleich zum Körper waren sie immens. An der Unterseite schimmerten sie in einem tiefen Rot, während ihre Oberseite pechschwarz war. Das Bild faszinierte mich. Ich erwachte wie aus einem Traum, als ich die Stimme des Mannes hörte. »Fast jeder, der mein Büro betritt, ist von ihm beeindruckt.«
»Stimmt«, gab ich zu. »Eine Frage hätte ich trotzdem. Wer ist er eigentlich?«
»Hermes.«
»Der Götterbote?«
»So haben ihn die Griechen genannt, und so nenne ich ihn. Er ist für mich ein fliegender Bote, der gute Nachrichten überbringt. Ein Synonym für unsere Firma. Auch wir sind dafür da, unseren Kunden gute Nachrichten zu übermitteln.«
»Wie edel von Ihnen.«
Sollte er den Spott aus meiner Stimme herausgehört haben, so hatte er sich gut in der Gewalt, denn anmerken ließ er sich nichts. »Wollen Sie nicht Platz nehmen, Mr. Sinclair.«
»Ja, gern.« Erst kam ich dazu, mich auf ihn zu konzentrieren. Mr. Polydor gehörte ebenfalls nicht zu den normal aussehenden Typen. Man konnte seine Gestalt als ebenso mächtig bezeichnen wie seinen Kopf, auf dem wiederum eine mächtige weiße Haarfülle wuchs. Mächtig waren auch die Nase, der Mund, das Kinn, die Ohren.
Ich konnte mir gut vorstellen, dass dieses Gesicht zu dem Mann gepasst hätte, der seinen Kopf unter einem schwarzen Helm verbarg. Natürlich hatte ich bei seinem Anblick sofort an den Schatten von der vergangenen Nacht gedacht. Das konnte durchaus dieser Hermes gewesen sein, der auf dieser Wand als Gemälde zu sehen war. Mr. Polydor trug einen weißen Anzug und dazu ein Hemd, das violett schimmerte. Er lächelte mir zu. Es war ein abwartendes geschäftsmäßiges Lächeln. »Sie denken noch über das Bild nach?«
»In der Tat.«
»Wie schätzen Sie es ein?«
»Das ist schwer zu
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