Attentage
dass sie als Nichteingeweihte an einer akuten Terrorbedrohung zweifelten. Das Land war kein klassisches Terrorziel und berief sich auch als EU-Mitglied noch gerne auf seine Neutralität. Der angekündigte Anschlag galt auch den amerikanischen Gästen des Filmballs und nicht der Wiener Prominenz. Eine Bombe unterschied da allerdings nicht.
MITTWOCH, 4. APRIL, 18.30 UHR | WIEN, FAHRT ZUM FILMBALL
Sameer steht der Schweiß auf der Stirn. Der Fremde hat noch so gut wie kein Wort mit ihm gesprochen, sondern ihm nur nach einem gemurmelten kurzen englischen Gruß ein Kuvert in die Hand gedrückt.
Dann ist er mit einer mitgebrachten Tortenschachtel im Laderaum des Lieferwagens verschwunden. Sameer nützt die Gelegenheit, um den dicken Umschlag aufzureißen. Er wirft einen Blick hinein. Es ist ein Bündel mit 100-Dollar-Noten – die versprochene Anzahlung eines Drittels der 60.000 US-Dollar, die er bekommt, wenn es sein Fahrgast bis ins Rathaus schafft. Egal, ob es ihm dann auch gelingt, die Torte in das Gesicht des Filmstars zu werfen. Sameer versteckt den Umschlag mit dem Geld in einer Packung mit Mullbinden im Verbandskasten unter dem Beifahrersitz.
Das Geld beruhigt ihn, aber er ist irritiert, dass sein Passagier so gar nicht wie ein US-Bürger wirkt. Sind es der strenge und etwas zu kurze Haarschnitt und das für einen jungen Mann im Westen von der Sonne zu gegerbte Gesicht? Oder ist es die Tatsache, dass dieser Fremde eine helle Stoffhose trägt, die seiner in seinem Heimatdorf gekauften zum Verwechseln ähnlich ist? Auch das blaue Hemd des Amerikaners gleicht jenem, das Sameer selbst vor Jahren an einem Textilstand auf einem ländlichen Jahrmarkt gekauft hat. Er hat es selten getragen, weil es so billig wirkt, und so hängt es langsam ausbleichend ganz hinten in seinem Kleiderkasten.
Sameer versteht auch nicht, warum der „Amerikaner“ eine eigene Torte mitbringt, die noch dazu von ihrem Betrieb produziert wurde. Im ganzen Fahrzeug sind genau solche Esterházytorten gestapelt. Er will die Tür zum Laderaum öffnen, aber sie ist von innen verriegelt. „Wir müssen los“, ruft er. Ein ärgerliches „Yes“ kommt als Antwort und es dämmert Sameer, dass sein Passagier nicht neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz nehmen wird. Er klopft nochmals, ohne eine Antwort zu erhalten. Resigniert startet er den Motor und fährt vorsichtig los. Sameer ist um die zweistöckige Esterházytorte besorgt, die auf einem Metallgestell aufgebaut ist und die er sorgfältig im Fond verankert hat, damit sie während der Fahrt nicht umfallen kann. Die untere Torte der zweistöckigen Dekoration für das Süßspeisenbuffet ist eine Sonderanfertigung und fast doppelt so groß wie die obere. Auf dieser Esterházytorte stecken zwei kleine Marzipanfiguren, Jamie Boone und Aaron Dutcher, umringt von schokobraunen Kerzen.
Er hört seinen Passagier auf der Fahrt im Wageninneren rumoren, aber da sein Fahrgast mit dem Rücken an dem schmalen Fenster zum Laderaum lehnt, kann er auch im Rückspiegel nicht erkennen, was er dort tut.
Sameer kann nicht wirklich benennen, was ihn so stört und beunruhigt. Er ahnt nicht, dass Abdul die obere Torte auf dem Metallgestell auswechselt. Aber er hat das dumpfe Gefühl, dass er dabei ist, einen schweren Fehler zu begehen. Er hat immer vermieden, sich die Frage zu stellen, warum jemand so viel für einen Tortenwurf zahlt.
Mittlerweile ist es im Laderaum ruhig geworden. „Everything okay?“, ruft Sameer und es verwundert ihn nicht, dass er keine Antwort bekommt. Kurz überlegt er, in eineSeitenstraße abzubiegen, seinen unheimlichen Fahrgast auszusetzen und die 20.000 Dollar einfach zu behalten. Aber Sameer wird plötzlich klar, wie aussichtslos seine Lage ist. Wenn es hier wirklich nur um eine Torte ins Gesicht von Jamie Boone geht, dann ist es leicht verdientes Vermögen. Nie mehr in seinem Leben wird er so eine Chance bekommen! Und wenn es hier um etwas Schlimmeres geht, dann ist mit diesen Leuten nicht zu spaßen. Sie werden sich nicht nur ihr Geld wiederholen, sondern ihn auch töten. Sameer verwirft diese waghalsige Idee und versucht, nicht darüber nachzudenken, was schlimmer ist als eine Torte im Gesicht eines Hollywoodstars. Er leckt sich mit der Zunge über die Unterlippe und ist kurz über den salzigen Geschmack verwundert, bis er bemerkt dass sein gesamtes Gesicht von Schweiß bedeckt ist.
„What’s your name?“, ruft Sameer, diesmal etwas energischer.
„Marwan Jahra.“ Obwohl diesmal
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