Attentage
Wissen, dass er von der Kamera an der Decke beobachtet wird, hält ihn zurück, seinen Kopf so lange an die Zellenwände zu schlagen, bis er das Bewusstsein verliert. Sie sollen seine Verzweiflung nicht sehen.
Immer wieder muss Ahmed daran denken, dass ihm der seltsame Fremde beim letzten Besuch angeboten hat, dafür zu sorgen, dass er sein Leben beenden kann. Die Alternative ist für ihn, als „offiziell Toter“ in dieser fensterlosen Zelle langsam zu verrotten. Sogar das Essen ist jeden Tag derselbe eintönige Kartoffelbrei mit Bohnen und widerwärtigen kleinen Fleischbrocken, die er nicht isst. Und noch immer sprechen seine Gefängniswärter kein Wort mit ihm.
Wenn er verrät, in welcher Gegend sich das Lager im Jemen befindet, werden die Brüder zumindest wissen, dass sie von jemandem verraten wurden. Da sie denken, dass er tot ist, wird der Verdacht auf einen in ihrer Mitte fallen. Dann gibt es zumindest eine geringe Chance, dass der tatsächlicheVerräter entdeckt wird. Im schlimmsten Fall werden alle im Lager von den Amerikanern getötet, und damit hoffentlich auch der Verräter. Als Alternative sieht Ahmed momentan nur, dass in den nächsten Jahren ein Bruder nach dem anderen bei seinem missglückten Attentat stirbt.
Aber ist es Allahs Wille, dass er zum Verräter wird, um den wahren Verräter zu entlarven? Wird ihn sein Verrat nicht am Ende nach Jahannam verbannen? Dort in der Hölle bekommen die Frevler heißes Wasser zu trinken und müssen die Früchte des Saqqumbaumes hinunterwürgen, die wie geschmolzenes Metall zu schrecklichen inneren Schmerzen führen. Mit Ketten an andere Ungläubige gebunden, wird man von Höllenwärtern mit Stockhieben gezwungen, im sengenden Feuer zu verweilen. Ahmed erschaudert bei dieser Vorstellung.
Er ist so mit seinen Gedanken beschäftigt, dass ihn das Klopfen an der Zellentür aufschrecken lässt. Es erscheint ihm seltsam, dass sich jemand benimmt, als ob ein Gefangener die Autorität hättte, den Einlass in seine Zelle abzulehnen oder zu genehmigen. Während er noch überlegt, von der Pritsche aufzustehen, wird die Tür aufgesperrt. Der seltsame Unbekannte steht in der Tür – und wie immer ein Wachmann mit einer Waffe im Anschlag hinter ihm.
„Du siehst, dass ich die Wahrheit gesagt habe“, sagt Bruno mit einem Blick auf den Zeitungsstapel neben der Pritsche. Er trägt heute einen braunen Anzug, als ob es etwas zu feiern gäbe. In seiner rechten Hand hält er Handschellen, die dazu völlig unpassend wirken. Er wirft sie Ahmed zu, der sie in einer Reflexbewegung fängt.
„Ich habe eine Nachricht, die dich aufregen wird“, sagt Bruno, „daher bitte ich dich, dass du dich selbst mit einerHand an der Halterung der Pritsche ankettest. Ich möchte nicht, dass unser Gespräch wieder durch einen Elektroschock unterbrochen wird.“ Der verächtliche Gesichtsausdruck des Wachmanns auf dem Gang zeigt, dass er solch höfliche Ansprachen an einen Gefangenen für unnötig hält.
Ahmed überlegt kurz und zuckt dann gespielt gleichgültig mit den Schultern. Bruno wartet, bis er sein linkes Handgelenk fixiert hat, überprüft es und zieht danach zwei Fotos aus seiner Sakkotasche, die er mit der Rückseite nach oben neben Ahmed legt. Dann setzt er sich ruhig auf den Schemel – in einer Entfernung, wo ihn selbst ein Fußtritt Ahmeds nicht erreichen kann.
Ahmed nimmt die Fotos mit seiner rechten Hand auf und wird kreidebleich. Das erste Foto zeigt seine Schwestern, die offenbar gerade zu Fuß auf dem Weg zur Schule sind. Das Bild ist offenkundig vom Beifahrersitz eines Autos aufgenommen worden. Auf dem zweiten Foto ist seine Mutter im Innenhof seines Wohnblocks mit seinem Onkel zu sehen, der offenbar gerade heftig gestikuliert. Das Foto muss von einer Wohnung in den oberen Stockwerken aufgenommen und stark vergrößert worden sein. Dadurch ist es grobkörnig und seine Mutter sieht wie eine uralte Frau aus. Vor allem aber scheint sie eingeschüchtert zu sein. Instinktiv ahnt Ahmed, dass er das Thema dieses Streits ist. Doch nicht nur das verstört ihn, sondern es erschreckt ihn zutiefst die Tatsache, dass die Feinde wissen, wer er ist, und nun auch seine Familie kennen und beobachten. Noch einmal blickt Ahmed auf das Foto seiner beiden Schwestern. Dann beginnt er lautlos zu weinen.
Bruno beobachtet ihn, er scheint diese Reaktion nicht erwartet zu haben. Nach einigen Minuten trocknet Ahmed mit dem Ärmel des zerrissenen und dreckigen Hemds, daser seit Beginn der
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