Attentage
Zeit, bis er reden wird. Dann werden sie uns auchhier bei Suq al-Inan finden und bombardieren. Wir sollten sofort an einen anderen, sicheren Ort.“
Der Sheik steht abrupt auf, bückt sich und steckt seinen Krummdolch wieder in den breiten Gürtel. „Aber erst, wenn wir den Verräter gefasst haben oder sicher sind, dass es keinen gibt.“
Von draußen dringt der Gebetsruf der Brüder zu ihnen. „La illah Allah illah Allah.“ Als sie vor das Zelt treten, beugen sich die Männer schon Richtung Mekka. Said schließt den Zelteingang, um das Innere vor dem Sand zu schützen, den der Wüstenwind aufwirbelt. Er verfolgt Umar noch nachdenklich mit seinen Blicken, bis auch er sich bei den Betenden einreiht.
DIENSTAG, 10. APRIL, 17 UHR | AMSTERDAM, CAFÉ VERTIGO
„Was ist denn zwischen Ihnen beiden los?“ Brunos Frage trifft Heather und Leconte unvorbereitet. Sie sitzen zu dritt in einer ruhigen Ecke im schattigen Gastgarten eines Cafés im Vondelpark. Heather ist als Letzte gekommen und hat sich gegenüber den beiden Männern hingesetzt, wobei sie bis jetzt versucht hat, Leconte nicht direkt anzusehen.
Bruno hatte den Commissaire am Montagmorgen in Paris angerufen und ihm mitgeteilt, dass er wichtige Informationen für die FISA habe, die er bei einem Treffen persönlich mitteilen wolle. Leconte hatte ihn ohne Erklärung an Heather als neue Leiterin des Projekts verwiesen. Nachdem Bruno sie erreicht hatte, hatte sie ihn gebeten, das Treffen mit ihr und Leconte zu organisieren.
Nach mehreren Vertröstungen von Lecontes Seite, der mit seinem Team gerade auf die Rekonstruktion des Pariser Attentats konzentriert war, platzte dem sonst so beherrschten Bruno am Montagabend der Kragen. „Ist das eine Antiterroreinheit oder die staatliche Abteilung für Pensionsanträge?“, fragte er ungewöhnlich scharf am Telefon. „Entweder sind Sie am Dienstag um 17 Uhr im Café Vertigo in Amsterdam, oder ich werde mich offiziell über Sie beschweren! Was ist mit Ihnen los?! Ich habe Informationen, die über Leben und Tod entscheiden.“
Nachdem Heather schweigt, versucht Leconte die Situation zu erklären: „Ich habe die Leitung zurückgelegt, nachdem ich in Wien einen schweren Fehler gemacht habe. Heatherhat für mich übernommen und ich unterstütze sie. Ich bin nicht mehr so wichtig. Das ist alles.“
„Das meinte ich nicht“, sagt Bruno, „ich rede von Ihrem ambivalenten Benehmen.“
„Ambivalent?“, wiederholt Heather fragend, als ob ihr das Wort unbekannt wäre.
„Sie benehmen sich wie ein altes Ehepaar beim ersten Treffen nach der Scheidung. Gleichzeitige Körpersignale von Vertrautheit und Ablehnung“, sagt Bruno trocken zu beiden.
Heather errötet leicht. Leconte hört nicht auf, mit seinem Löffel in der Kaffeetasse zu rühren. Bruno grinst. „Bingo!“, sagt er. „Und damit weiter zu unserem lebendigen Toten Hussein mit dem französischen Pass, der ja, wie wir wissen, in Wirklichkeit aus dem Jemen kommt und Ahmed heißt!“
„Wie haben Sie eigentlich Informationen von ihm bekommen?“, fragt Leconte.
„Ich habe ihm damit gedroht, seine Schwestern und seine Mutter entführen und foltern zu lassen, und habe ihm versprochen, dass ich ihm die Möglichkeit gebe, sich umzubringen, wenn er mir verrät, wo sich das Ausbildungslager befindet und wer die Leiter sind.“
Heather blickt ihn kritisch an. „Selbst als Witz ist das niveaulos!“, sagt sie.
„Vertigo-Effekt“, sagt Bruno.
„Was?!“, meint Leconte.
Bruno deutet auf das Amsterdamer Filmmuseum hinter ihnen. „In einer Schlüsselszene in Hitchcocks Film ,Vertigo‘ stürzt eine Frau von einem Kirchturm. Die Kamera verfolgt den Fall und zoomt gleichzeitig zurück. Es wird die Realität gezeigt, aber durch diesen Effekt dramatisch verstärkt. Der Zuseher merkt, dass hier etwas anders ist, aber kann esdennoch nicht einordnen, wie er hier manipuliert wird. Das nennt man in der Filmsprache den Vertigo-Effekt. Dieses Prinzip nutze ich auch in meiner Arbeit.“
Leconte kratzt sich am Ohr. „Ich verstehe kein Wort. Welche Informationen haben Sie nun tatsächlich von ihm bekommen?“
Bruno schiebt beiden zwei handgeschriebene Zettel zu. „Wir wissen nun die ungefähre Lage des Camps und die Namen der Führer. Ich nehme an, dass ich nicht mehr erfahren werde, weil er auch nicht mehr weiß. Es gibt nur diese beiden Blätter in meiner Handschrift und keine Kopien. Da unser Mann bald tot sein wird, wird es auch nie ein Protokoll dieser Vernehmung geben.
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