Attentage
Gegenfahrbahn auszuweichen. Ein entgegenkommendes Fahrzeug bedeutet den sicheren Tod, aber es besteht noch die Chance, sich so ohne Schaden aus der Situation herauszumanövrieren.
Als Leconte das Büro betritt, sieht er, dass jemand mit dem Rücken zu ihm an seinem Schreibtisch sitzt. Der Rückenkommt ihm bekannt vor. Lucien erblickt den Commissaire als Erster und will etwas sagen, aber Leconte deutet ihm, ruhig zu sein. Er geht auf den Unbekannten zu. Er ist noch einige Schritte entfernt, als dieser sich umdreht.
„Schön, Sie zu sehen“, sagt Bruno und lächelt sanft. „Ich wurde zu Ihnen geschickt, da es einige Fragen gibt, auf die Sie eine Antwort brauchen.“
DIENSTAG, 24. APRIL, 13.40 UHR | JEMEN, WÜSTENCAMP
Said al-Mutallab betrachtet die Gruppe, die im großen Gemeinschaftszelt mit ihm im Kreis auf dem Boden sitzt, nachdenklich. Seitdem sie vor einer Woche erfahren haben, dass Sheik Ali al-Houthi von der al-Qaida als Verräter hingerichtet wurde, ist die Stimmung nicht mehr wie früher.
Die vertrauten Gespräche zwischen den Brüdern haben aufgehört und eine Atmosphäre der Furcht und des Misstrauens hat sich breitgemacht. Selbst beim gemeinsamen Gebet wirkt die Anrufung Allahs immer mechanischer und weniger inbrünstig. Fayez hat Said mitgeteilt, dass es seiner Meinung nach unverantwortlich wäre, in diesen Tagen jemanden mit einem Auftrag als Mujahid zu senden. Keiner hätte die geistliche Stärke dazu und es fehle das Vertrauen in die Fähigkeit der Leiter, den Willen Allahs zu erkennen. Immerhin hätten sie ja ihre Mitbrüder in einen sinnlosen Tod gejagt, weil es einen Verräter gäbe.
Said ist sehr besorgt wegen Fayez. Er scheint nicht zu glauben, dass sein Onkel der Verräter war. Kurz hatten sie deswegen am Tag nach dessen Tod eine heftige Auseinandersetzung vor allen Brüdern. Erst als Said ihn wutentbrannt angeschrien hatte, wer denn Fayez’ Meinung nach dann der Verräter unter ihnen sei, war er zur Vernunft gekommen und hatte eingelenkt. Said versteht seine Aufregung, denn es ist natürlich eine furchtbare Schande für die ganze Familie von Ali al-Houthi. Auch wenn Fayez selbst nichts Falsches gesagtoder getan hat, so wird er doch immer einen Makel mit sich herumtragen. Im Lager hat er in den letzten Tagen den Respekt der Männer völlig verloren, auch wenn sie freundlich zu ihm sind und versuchen, sich nichts anmerken zu lassen.
Nein, nichts ist mehr wie früher. Umar hat sich völlig zurückgezogen und hüllt sich in Schweigen. Said ist froh, dass er in einigen Minuten allen eine Nachricht überbringen wird, die dem Spuk hier ein Ende bereiten wird. Er hat sich am Morgen mit Anwar al-Garadi getroffen, der eine dringende Nachricht seines Informanten in Europa erhalten hatte.
Said räuspert sich, als ob er damit um Ruhe ersuchen würde, obwohl es bereits völlig still ist. Nur der Wüstenwind schlägt eine lose Schnur in unregelmäßigen Abständen an die Zeltwand.
Er beginnt mit Sure 16/37. „Allah leitet diejenigen, die er irreführt, nicht recht. Und sie haben keine Helfer.“ Alle Blicke sind auf ihn gerichtet. „Dank Allah, dem Wissenden, hat uns die Nachricht erreicht, dass die Amerikaner planen, unser Lager zu bombardieren. Daher werden wir es sofort verlassen. Die Zelte bleiben stehen, damit sie glauben, unser Camp zerstört und uns getötet zu haben, wenn sie uns mit ihren Satelliten beobachten. Die erbärmlichen Feiglinge senden keine Flugzeuge mit Piloten, sondern unbemannte Drohnen, die mit Raketen bestückt sind.“
Fayez meldet sich zu Wort. „Und wohin gehen wir?“
Said breitet die Arme aus. „Wir gehen alle nach Hause, bis wir neue Befehle bekommen und wissen, wie es weitergeht. Es muss alles neu organisiert werden. Die Brüder haben das Vertrauen in uns verloren und werden uns nicht mehr finanziell unterstützen. Packt schnell eure Sachen. Wirmarschieren in 20 Minuten einige Kilometer den Weg entlang, bis zur Abzweigung zum breiteren Weg. Dort werden wir von zwei Kleinbussen abgeholt.“
Umar hebt den Kopf. „Die Brüder wollen uns also auch nicht in ihren Camps in den Bergen aufnehmen, weil wir im Lager eines Verräters waren?“
Saids Schweigen beantwortet die Frage. Einer nach dem anderen verlässt das Zelt, bis nur mehr Fayez und Said auf dem Boden sitzen.
„Woher hast du die Nachricht von den Drohnen?“, fragt Fayez, „Ist das die gleiche Quelle, die meinen Onkel als Verräter entlarvt hat?“
Er bemüht sich, ruhig zu bleiben, aber seine Stimme
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