Attentage
zittert verräterisch.
„Ja“, sagt Said. „Es tut mir leid.“ Auch wenn er es nicht ausspricht, ist Fayez klar, dass er nicht das Aufgeben des Lagers meint, sondern sein Bedauern über den hinterhältigen Verrat des Sheiks und die damit verbundene Zukunft Fayez’ anspricht. Niemand wird dem Neffen eines Mannes trauen, der seine Brüder für Geld ans Messer lieferte. Die Familienehre kann erst in vielen Jahren wiederhergestellt werden. Der Houthi-Clan ist zwar groß und mächtig und andere aus dem Stamm werden wichtige Aufgaben übernehmen. Aber die unmittelbaren Familienangehörigen werden lange geächtet bleiben, denn sie haben mit einem Verräter unter einem Dach gelebt. Es klingt unglaubwürdig, dass sie nichts an seinem Verhalten bemerkt haben.
„Ich werde den Jemen verlassen“, sagt Fayez mehr zu sich selbst als zu Said, „und die Ehre meiner Familie wiederherstellen. Dazu nehme ich mir heute das Werkzeug eines Mujahids.“
Said sieht ihn mit einem scharfen Blick an. „Du hast keinen Auftrag von den Brüdern, aber niemand wird dich hindern. Wohin willst du gehen?“
„Derjenige soll mit mir sterben, der dafür verantwortlich ist, dass unsere Brüder bei ihren Aufträgen sinnlos ihr Leben opferten.“
Said ist erstaunt. „Dein Onkel ist tot“, sagt er vorsichtig.
Fayez schüttelt unhöflich den Kopf, als ob er gerade etwas besonders Törichtes gehört hätte. „Ich will den Kopf der Gruppe töten, die all die letzten Anschläge verhindert hat. Fragt eure Quelle nach seinem Namen und seiner Adresse und er wird mit mir sterben und die Ungläubigen damit lehren, dass man sich nicht ungestraft gegen die Pläne Allahs erheben kann.“
Said sieht nachdenklich aus. „Ich werde danach fragen.“
„Es geht um meine Ehre. Das seid ihr mir schuldig.“ Fayez ist aufgestanden.
Auch Said erhebt sich. „Niemand ist niemandem etwas schuldig. Wir sind nur Allah Gehorsam schuldig.“
„Ich besuche dich in drei Tagen in deinem Haus in Sanaa, um zu hören, was du mir dann mitteilst“, sagt Fayez.
Als er ins Freie tritt, wirft die Wüstensonne seine Silhouette kurz als überdimensionalen Schatten an die Zeltwand, bis sie nach jedem seiner Schritte schrumpft, um dann scheinbar vom rötlichen Sand spurlos verschluckt zu werden.
DIENSTAG, 24. APRIL, 18.40 UHR | PARIS, RESTAURANT LE CIEL
„Garçon!“ Leconte weiß, dass es unhöflich ist, in dem eleganten Restaurant im 56. Stockwerk des Tour Montparnasse so laut nach dem Kellner zu rufen. Er ist leicht benommen von dem süffigen Landwein, der Aussicht aus den Panoramafenstern auf das Lichtermeer der Stadt und vor allem vom positiven Inhalt des Gesprächs mit Bruno, der trinkfester ist als erwartet. Einige Stunden haben sie nun schon miteinander verbracht und Leconte versucht das Puzzle in seinem Gehirn zu ordnen.
Bruno hat Heather im Auftrag der FISA im Hotelzimmer in Frankfurt verhört, nachdem sie zuvor mit niemandem hatte reden wollen. Leconte versteht zwar nicht, wie es dem Österreicher gelungen ist, dass sie ihm in kurzer Zeit freiwillig ihre gesamte Lebensgeschichte anvertraut hat, aber das ist offenbar geschehen. Kurz ist der Commissaire auf diese Intimität eifersüchtig, als ihm Bruno einige Details aus Heathers Leben schildert. Doch viel wichtiger ist für ihn, dass der Verhörspezialist sie für unschuldig hält.
„Ich erkenne, wenn Menschen mich belügen“, hatte ihm Bruno kurz erklärt. „Es ist ihnen ins Gesicht geschrieben – in der Mimik, ihrem Blinzeln, einem Lecken der Lippen, einer Handbewegung zum Ohr oder Kinn, dem Blick. Wenn sie etwas aus ihrem Gedächtnis abrufen, blicken sie nach oben rechts, wenn sie etwas erfinden aber nach oben links. Und dazu kommen noch andere Signale, wie Schweiß,Hautrötung, erhöhter Puls, Gestik, Körperhaltung. Dazu die verräterische Sprache – der Tonfall, die Betonung, der Beginn des Sprechens, ein Zittern in der Stimme, die Lautstärke, die Sprechgeschwindigkeit …“
„Nach Heathers Aussage ist also Folgendes passiert“, fasst Leconte, der Brunos Methoden noch immer skeptisch gegenübersteht, zusammen: „Heathers Sohn hat sich in Pakistan vor einigen Jahren einer radikalen muslimischen Gruppe angeschlossen. Er lernte seine Mutter erst mit 18 kennen, wusste aber nie, dass sie eine Antiterroreinheit leitet, sondern dachte, dass sie als verdeckte Ermittlerin beim Zoll arbeitet.“
„Ja“, sagt Bruno. „Um die ganze Situation zu verstehen, muss man immer daran denken, dass er Heather
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