Attila - Die Welt in Flammen
Erde.»
Attilas Gesichtsausdruck verriet einen heftigen inneren Kampf, so als hasse er diesen Feind mehr denn je, weil dieser ihn zwang, ihn zu bewundern. Als würde seine eigene geballte innere Stärke dadurch zu schmelzen beginnen.
«Schießt ein paar Pfeile auf sie ab», sagte er.
Normalerweise hindert uns unser Gewissen daran, Grausamkeiten zu begehen. Begeht man jedoch regelmäßig Grausamkeiten, verstummt das Gewissen irgendwann. Enkhtuya strich über ihren Halsring aus vertrockneter Schlangenhaut, und der Pfeilregen setzte ein.
Oben von der Stadtmauer erklang ein kläglicher Warnruf, als der Himmel schwarz wurde vor lauter Pfeilen, wie ein nachtdunkler Regenbogen. Doch es war zu spät. Die Bogen fielen wie stacheliger Regen, und viele der dahintaumelnden Flüchtlinge wurden getroffen. Sie begannen zu schreien, Panik und Verwirrung brachen aus. Einige rannten sogar wieder von der Stadtmauer weg, weil sie in ihrer Verzweiflung fatalerweise glaubten, die Verteidiger der Stadt hätten auf sie geschossen. Die Wolfskrieger hoben augenblicklich die Schilde und verfielen in einen kreisenden Galopp. Ein paar schoben den Schild in den Nacken, nockten einen Pfeil ein und schossen auf die Hunnen. Eine erbärmliche Antwort auf ein derartiges Gemetzel, aber es zeigte, aus welchem Holz sie geschnitzt waren.
Aëtius riss sein Pferd herum, bleich und sprachlos vor Wut. Er galoppierte auf die herumirrenden Flüchtlinge zu und trieb sie auf das offene Tor zu. Die Mauern seien ihre Rettung, schrie er sie an, und die Pfeile kämen von den Hunnen. Er griff ein Kind auf, das zu Boden gestürzt war, ein kleines Mädchen von nicht mehr als vier oder fünf Jahren, dessen Stirn von einem Pfeil aufgeschürft worden war. Die Wunde war nicht tief, aber das Mädchen war ganz blind von Blut und Tränen und schrie wie am Spieß. Aëtius setzte sie sich auf den Schoß, stützte ihr den Rücken mit der Hand und befahl ihr, sich zu beruhigen. Dann wendete er sein Pferd erneut, ritt vor die Wolfskrieger, blieb stehen und starrte empor. Er sprach nicht und rührte sich auch nicht, auch dann nicht, als der zweite Pfeilregen niederging. Etliche Pfeile fielen in seine Richtung, trafen aber nicht. Er starrte wie ein verirrter Reisender auf ein einsames Moor, starrte immer nur in den Regen.
Attila hob den Arm, und der Pfeilhagel hörte auf der Stelle auf. Aëtius’ Schweigen war beredter, als es zornige Befehle oder eine geballte Faust hätten sein können. Hinter ihm waren die Schreie und das Stöhnen der Verwundeten zu hören, die sich mühsam aufrafften und in die Stadt zu schleppen versuchten. Vor ihm, auf der im Umkreis von einer halben Meile verlassenen Ebene mit den niedergebrannten Bauerngehöften, standen die hunderttausend Reiter und ihr Anführer, der den Arm noch immer emporgereckt hielt. Über die Distanz dieser halben Meile hinweg betrachteten beide Männer einander.
«Nun», sagte Attila leise, «ihr Römer kennt euch ja aus mit dem Abschlachten von Unschuldigen!»
Sein Arm sank, und der Himmel verdunkelte sich erneut.
* * *
Das zu Tode erschrockene Mädchen im Arm, galoppierte Aëtius auf die Stadtmauer zu, während rings um ihn Pfeile in den Boden einschlugen. Vor ihm wankten die Flüchtlinge in Sicherheit.
Aëtius ließ sich aus dem Sattel gleiten, nachdem die Torflügel hinter ihm zuschlugen und der Riegel vorgeschoben wurde. Er hob das kleine Mädchen herunter, wischte ihm mit dem Zipfel seiner Tunika über die Stirn und das Gesicht und hockte sich vor es hin. Auf einmal guckte es so erschrocken, dass es zu weinen vergaß.
«Wie heißt du?»
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Er drückte seine schmalen Schultern.
«Euphemia», flüsterte es kaum hörbar.
«Warst du bei deiner Familie, Euphemia? Als du dich dort draußen verstecktest?»
Es nickte weinerlich. «Mit meiner Mutter», flüsterte es.
«Hast du gesehen, wie sie auf die Stadt zugerannt ist?»
Es schüttelte den Kopf.
Aëtius erhob sich und übergab sie einer anderen Frau mit der Anweisung, die beiden möglichst wieder zusammenzubringen. Die Verwundeten sollten ins Emmanuel-Hospiz gehen; einer seiner Männer würde sie dorthin bringen. Dann rannte er die Treppen zum Wandelgang hinauf und dann hinüber zum Sankt-Romanus-Tor. Der Feind kam näher. Aëtius sah, dass Attilas Blick bereits auf den niedrigsten Punkt des Verteidigungswalls gerichtet war, wo dieser zum Lykus-Tal hin eine Kerbe bildete; im Norden ragte das Militärtor V auf. Oben sah er den hin
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