Auch Deutsche unter den Opfern
den Nachrichten vermeldet wird – Winter in Berlin. Wirklicher Winter. Einer, der es aufnehmen kann mit den Kindheitserinnerungen. Blauer Himmel, klare Luft, in der Sonne strahlende Schneepracht – wer liebt das nicht? Ich kenne nur einen Menschen, der diese Bedingungen deprimierend findet: mein Freund Helmut. »Furchtbar ist das«, flucht er und schliddert auf Sommerschuhen durch die Gegend. Dieses Gestrahle und Geglitzer sabotiere seine Melancholie, solche »Pracht« (dieses Wort betont er besonders angeekelt) sei eine derart monströse Stimmungsvorgabe, man könne gar nicht mithalten. Außerdem sehe man nun jeden Staubfussel auf Parkett und Mobiliar, nicht auszuhalten sei das. Als ichihn fragte, welche Art Winterjacke er mir empfehle, da ich doch – anders als er – gerne draußen bin bei diesem, ja!, schönen Wetter, riet er zu einem Pelzmantel und lächelte vieldeutig.
Tatsächlich Winter also, sogar in der Stadt, man muss nirgends hinfahren, um ihn zu erleben, der Winter kam zu uns. Schon für kurze Wege, von der Haustür bis zur S-Bahn etwa, muss die Kleidung nun wintergerecht sein, noch die seltsamsten Textilien sind rechtfertigbar mit dem Hinweis »Hält aber warm«.
Doch Ruhe mal kurz! Da ist dieses Geräusch, nicht in der Erinnerung, sondern echt, jetzt, live: prchp-prchp-prchp.
II.
Vom schalen Gewitzel Mario Barths verwöhnte Menschen mag es erstaunen, aber es ist wahr: Manchmal müssen auch Männer sich Schuhe kaufen. Und auch ein Mann muss dafür zuweilen mehrere Stunden, wenn nicht Tage aufwenden – im Winter zum Beispiel. Jede Art Turn- oder Halbschuh ist bei den gegenwärtig herrschenden Außentemperaturen und Gehwegbeschaffenheiten bereits nach kurzem Fußmarsch Sandalen oder Filzpantoffeln kaum noch überlegen. Man rutscht, man friert, die Nässe kriecht durch die Sohle – und man landet alsbald im Bett, entweder zuhause (fiebrige Erkältung) oder gleich im Krankenhaus (Oberschenkelhalsbruch).
Dann doch lieber: Winterstiefel.
Als naiver Berliner könnte man denken, der beste Stadtteil für einen Schuhkauf sei der Bezirk Mitte, schließlich beherbergt dort jedes zweite Haus ein Schuhgeschäft. Großes Angebot, kurze Wege, alles – genau – fußläufig; für Noch-Halbschuhläufer mag das gut klingen. Leider jedoch wäre die Mehrzahl der Verkäufer in diesen Mitte-Schuhläden wohl lieber DJ oder runtergeranztes Fotomodel; alle sehr damit beschäftigt, der Mode vorweg- oder knapp hinterherzueilen – von Schuhen jedenfalls verstehen sie kaum etwas.
»Guten Tag, ich suche gefütterte Stiefel, die aber nicht aussehen wie aus dem Schrank von Reinhold Messner. Warm sollen sie sein, Trittfestigkeit sollen sie mir geben, dennoch einen Rest von Eleganz verströmen.«
»Aha. Wir haben nur, was Sie hier sehen.«
»Mhm, mhm. Die hier, was ist denn mit denen – halten die warm?«
»Glaub schon. Also – keine Ahnung, kommt jetzt drauf an, was Sie unter warm verstehen.«
Und so weiter. Stiefel gibt es viele, in verrücktester Machart, in sämtlichen Farben, nur leider, wie so häufig, nicht das Naheliegende, Einfache: schwarze Lederstiefel, gefüttert, gern ohne Strass-Applikationen oder idiotische Gummibuchstabenbeklebung (»Arctic Power« oder »Winter Feeling«), dafür mit einer Sohle, die weniger zum Eiskunstlaufen denn zu würdevollem Spazieren geeignet ist. Ich habe beruflich wie privat viel durch die Stadt zu marschieren, dafür muss das Schuhwerk einerseits taugen, andererseits darf man ihm das nicht allzu sehr ansehen, da Ziel dieser meiner Stadtmärsche häufig sogenannte offizielle Anlässe sind, die drinnen stattfinden, und zwar in manchmal recht schniekem Drinnen, wo es sich jedenfalls kaum ziemt, im Polarexpeditionskostüm zu erscheinen.
»Ich kann noch mal im Lager gucken, aber …«
»Nein, nein, telefonieren Sie doch ruhig weiter mit Ihrer Freundin und fummeln dabei lässig am iPod rum, ich gehe ja schon.« Weiterhin in Halbschuhen. Über die Schulter ein letzter Gruß an das Schuhverkäufer-Model: »Steht Ihnen übrigens hervorragend, die asymmetrische Frisur!«
Das Verkaufspersonal in den Mitte-Schuhläden ist so sehr damit beschäftigt, beratungsbedürftigen Kunden zu demonstrieren, dass sie unterfordert sind mit der Tätigkeit des Schuheverkaufens, es gelingt ihnen beinahe, darüber hinwegzutäuschen, dass sie damit in Wahrheit über fordert sind. Von Laterne zu Stromkasten und anderen Haltegriffen mühsam hangelnd, gelangt man dann, endlich, zu einem
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