Auch Engel Moegens Heiss
hochkam. Entzugssymptome, dachte sie; ihr Körper rebellierte dagegen, dass sie ihm den gewohnten Alkohol verweigerte. Sie war schon öfter auf Entzug gewesen, aber stets nur in einer Klinik, wo man die Symptome mit Medikamenten erleichtert hatte.
Vielleicht sollte sie genau das tun. Vielleicht sollte sie sich in einer Klinik anmelden, falls sie es tatsächlich bis nach Huntsville schaffte. Sie hatte ihr Möglichstes getan, sie hatte Daisy zu warnen versucht; wenn sie jetzt in eine Klinik ging, würde sie in einem Monat wieder herauskommen, bis dahin hätte sich alles geklärt, und sie hätte ihre Ruhe.
Nur dass ihr Gewissen keine Ruhe geben würde, falls Daisy tatsächlich etwas zustieß und sie nicht alles unternommen hatte, um es abzuwenden.
Beide Hände fest ums Lenkrad gekrampft, fuhr sie weiter, schaffte es aber trotz aller Anstrengung nicht, den Wagen auf der rechten Spur zu halten. Die Mittellinie schien hin- und herzuwackeln, sodass sie pausenlos ins Schlingern kam, wenn sie versuchte, rechts davon zu bleiben. Ein großer weißer Wagen schoss laut hupend vorbei, und sie flüsterte: »Entschuldigung, Entschuldigung.« Sie gab doch ihr Bestes. Was allerdings nie gut genug gewesen war, weder für Temple noch für Jason oder Paige - nicht einmal für sie selbst.
Wieder hörte sie ein Hupen. Sie kontrollierte, ob sie zufällig auf ihrer eigenen Hupe lehnte, aber ihre Hände waren gar nicht in der Nähe. Der weiße Wagen war längst weg, sie hatte ihn auch nicht getroffen, wo kam also das Gehupe her? Ihr Blickfeld verschwamm, am liebsten hätte sie sich hingelegt, aber dann würde sie womöglich nicht wieder hochkommen.
Woher kam dieses verfluchte Hupen?
Dann sah sie etwas Blaues blitzen, ein stroboskopartiges Blinken, das sie noch mehr verwirrte, und gleich darauf war der große weiße Wagen links von ihr, wo er immer näher kam, bis er sie von der Straße abdrängte. Mit aller Kraft stieg sie in die Bremsen, um nicht mit dem weißen Wagen zu kollidieren, doch plötzlich begann sich das Lenkrad unter ihren Händen von selbst zu drehen und entriss sich ihrem Griff. Sie kreischte auf, weil der Wagen wie wild zu kreiseln anfing und ihr Sicherheitsgurt sich mit einem brutalen Ruck spannte, um sie festzuhalten, während sie von der Straße abkam; die Vorderachse pflügte in einen flachen Graben, und irgendetwas schlug ihr mit Wucht ins Gesicht.
Qualm erfüllte das Wageninnere, und panisch versuchte sie sich aus dem Sicherheitsgurt zu winden. Das Auto stand in Flammen, sie würde sterben.
Da wurde die Autotür aufgerissen, und ein großer Mann mit olivfarbener Haut beugte sich zu ihr herunter. »Schon gut«, sagte er beruhigend. »Das ist kein Rauch; nur der Puder aus dem Airbag.«
Weinend und ebenso verzweifelt wie erleichtert, dass es vor über war, sah Jennifer zu ihm auf. Endlich wurden ihr alle Entscheidungen abgenommen. Wenn Chief Russo mit Temple unter einer Decke steckte, dann konnte sie nichts daran ändern.
»Haben Sie sich irgendwo verletzt?«, fragte er, in der offenen Tür hockend und sie auf Verletzungen absuchend. »Abgesehen von Ihrer blutigen Nase?«
Ihre Nase blutete? Sie sah an sich herab und entdeckte rote Spritzer auf ihren Anziehsachen. »Woher kommt das?«, fragte sie verdattert, als gäbe es nichts Wichtigeres als ihre blutige Nase.
»Airbags platzen mit ganz schöner Wucht auf.« Er hielt einen gelben Erste-Hilfe-Koffer in der Hand, klappte ihn auf und holte ein dickes Gazepäckchen heraus. »Hier, pressen Sie das auf Ihre Nase. Das Bluten hört gleich wieder auf.«
Gehorsam drückte sie das Päckchen gegen ihre Nase und kniff gleichzeitig die Nasenflügel zusammen.
»Sie haben heute Morgen in der Bücherei angerufen, weil Sie gehört haben wollen, wie Ihr Ehemann eine Drohung ausgesprochen hat«, fuhr Chief Russo so seelenruhig fort, als würde er mit ihr über das Wetter plaudern. »Wenn Sie wieder halbwegs auf dem Damm sind, möchte ich, dass Sie eine Aussage über das machen, was Sie gehört haben.«
Müde ließ Jennifer den Kopf gegen die Kopfstütze sinken. »Arbeiten Sie mit ihm zusammen?«, näselte sie durch das Verbandspäckchen. Was tat das zur Sache? Selbst wenn er Ja sagte, konnte sie nichts dagegen unternehmen.
»Nein, Madam«, war die Antwort. »Eventuell wissen Sie das noch nicht, aber Daisy Minor ist eine gute Freundin von mir. Ich nehme Drohungen gegen sie sehr ernst.«
Vielleicht log er sie ja an. Die Möglichkeit bestand, aber Jennifer glaubte es nicht.
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