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Auch Santiago hatte einen Hund

Auch Santiago hatte einen Hund

Titel: Auch Santiago hatte einen Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Lindenthal
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bretonischen Jakobsweg - endet mit der glaubhaft von Herzen kommenden Einladung, in ihrem wenige Gehminuten Rigole abwärts liegenden Ferienhaus vorbeizuschauen und mit ihnen ein zweites Frühstück zu genießen. Warum nicht? Ich überlege nur, ob mein Zeitpolster groß genug ist, um die angepeilte Übernachtungsmöglichkeit in SAINT-CARADEC noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, denn Schlafplätze sind in diesem Teil der Bretagne spärlich gesät. Der Bauernhof dort ist so ziemlich der einzige, und den möchte ich nicht verpassen. Nach kurzem Zögern nehme ich also die Einladung freudig und gerne an, das eher karge Frühstück im feucht-kalten Morgennebel am See verlangt ja geradezu nach einem Nachschlag, und die Perspektive eines frischen, heißen café au lait auf sonnenüberfluteter Terrasse, noch dazu in angenehmer Gesellschaft, ist einfach zu verführerisch. Geschlagene zwei Stunden später, nach mehreren Kaffees, begleitet von frischen, kleinen Pancakes - anscheinend eine holländische Spezialität - und angeregter Unterhaltung mit meinen holländisch/englischen Gastgebern und ihren Frauen, schaffe ich es endlich, wieder meinen Rucksack zu schultern und, versehen mit ihren Adressen sowie ihren besten Wünschen für meine Pilgerreise, meinen auf so angenehme Weise unterbrochenen Weg an der Rigole wieder aufzunehmen. Natürlich musste ich ihnen auch versprechen, sie bei nächster Gelegenheit wieder zu besuchen. Das Zeitpolster ist mir im Moment ziemlich egal, ich bin in Hochstimmung. Die „verlorene“ Zeit werde ich schon hereinbringen, eine solche Begegnung, die einen mit wildfremden Menschen in kürzester Zeit Nähe, Vertrauen, sogar Freundschaft finden lässt, ist es wert!
    Um das Maß - der Zufriedenheit - voll zu machen, treffe ich wenig später ein junges Ehepaar, das gerade dabei ist, sein Ferienhaus zu beziehen und ganz offensichtlich auch nicht abgeneigt wäre, bei einem Glas guten Weins einen längeren Plausch mit mir zu halten, so sehr fasziniert sie die Tatsache, dass der Jakobsweg an ihrem Haus vorüberführt. Doch mit Bedauern lehne ich ihre Einladung ab, irgendwann muss ich schon auch weiterkommen.
    Es ist Mittag geworden und jetzt bin ich wirklich weit hinter meiner Marschtabelle zurück. Außerdem sieht es heute ganz danach aus, als könne ich endlich meine geliebte Siesta halten. Es ist warm, die Sonne lacht vom Himmel, einen geeigneten Platz habe ich schon im Auge, den will ich unbedingt bis zur Mittagsrast erreichen, wenn auch mit etwas Verspätung. Gegen 14 Uhr treffe ich schließlich beim „ökumenischen“ Hügel ein, wo sich, umgeben von einem Kranz alter Eichen, unmittelbar neben einem jahrtausendealten Kultplatz, einem Cromlec’h (Steinkreis), seit dem 19. Jahrhundert die Wallfahrtskirche NOTRE-DAME-DE-LORETTE erhebt. Die Siesta an diesem uralten Kraftplatz erfüllt alle meine Erwartungen bezüglich Erholung und Kraftschöpfen, sodass ich am Abend, als ich den Bauernhof erreiche, den Großteil meiner durch das zweite Frühstück verursachten Verspätung (eigentlich eine kurzfristige Prioritätenverlagerung) wieder aufgeholt habe. Noch einmal habe ich heute sagenhaftes Glück: Die Bäuerin vermietet nur ein Zimmer, das zu dieser Jahreszeit normalerweise auf Wochen ausgebucht ist, vor allem an den Wochenenden. Doch heute, Freitag, sie versteht auch nicht warum, ist es frei. Ich hatte mir gar keine Gedanken darüber gemacht, ob ich vielleicht vor verschlossener Türe stehen könnte, ich bin einfach voller Vertrauen in meinen zuständigen Apostel losmarschiert - und wieder hat er mich nicht enttäuscht!
    Nach der ersehnten Dusche, nach der wohlverdienten und wohlschmeckenden Pilgersuppe profitiere ich vor dem Einschlafen noch vom Luxus eines Fernsehgeräts am Zimmer (für 31 Euro wohl nicht zu viel verlangt); zur Zeit läuft ja die Fußball-Europameisterschaft in Portugal. Oh je - die Mannschaft meines Gastlandes Frankreich, der regierende Weltmeister, verliert! Hoffentlich verfällt das Land deshalb nicht in tiefe Depression und ich bekomme das zu spüren!
    P. S.: Scheinbar nicht, denn meine Gastgeber, denen ich noch eine gute Nacht wünsche, sind gerade dabei, mit Freunden eine Flasche exzellenten Rotweins zu entkorken, und bestehen darauf, dass ich sie mit ihnen verkoste. Wozu sie mich nicht zweimal auffordern müssen...
     
    5. Mai 1990 - es ist so weit!
     
    Fast zwei Jahre lang ist jetzt der Keim weitergediehen, aus dem Gefühl eine Idee, aus der Idee eine grundsätzliche

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