Auch Santiago hatte einen Hund
Welpen entschieden hatte, logischerweise für den größten und schönsten. Diesen, ihren zukünftigen Liebling, wollten sie besuchen, ihn fotografieren, langsam eine Beziehung zu ihm aufbauen. Als sie jedoch feststellten, dass er zwar der größte und schönste des Wurfes war, sonst aber lethargisch, fast apathisch wirkte und faul herumlag, während seine Geschwister ausgelassen miteinander spielten, machten sie kurzfristig ihre Entscheidung rückgängig und reservierten einen der noch freien beiden Welpen für sich. Und der größte und schönste war frei - für mich! Als erfahrene Züchterin hatte Frau Markl sofort erkannt, dass die vermeintliche Apathie des jungen Hundes nur auf Eisenmangel (kommt auch bei Menschenbabys häufig vor) zurückzuführen war, also binnen zweier Wochen mittels Eisentabletten problemlos behoben werden konnte. (So war es dann auch, und von der „Apathie“ blieb ihm nur seine große Sanftmut, vor allem mir gegenüber.) Sie sagte kein Wort und reservierte den „Verstoßenen“ sofort für mich. So kam ich als Zuletztgekommener zum größten und schönsten Hund des Wurfes! Später erfuhr ich von Frau Markl, dass das deutsche Ehepaar noch großes Pech gehabt hatte, denn ihr Hund entpuppte sich als Epileptiker.
Auf wunderbare Weise sitze ich heute also, am 5. Mai 1990, bei der Hochzeit meines Bruders Thomas und habe einen entzückenden, schwarz-weißen Wollknäuel mit sanftem, leicht traurigem Blick auf meinen Knien. Ich nenne ihn Ajiz.
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SAMSTAG, 26. JUNI
SAINT-CARADEC - CADORET
Gestern Nachmittag habe ich von einer Telefonzelle in LE QUILLIO aus (ein Handy hat auf meiner Pilgerreise nichts verloren) Thierry angerufen. Er und Elisabeth verbringen das Wochenende wieder in AURAY, und da ich mich ihnen heute bis auf etwa 40 Kilometer annähere, hat er mir vorgeschlagen, bei ihnen zu übernachten, und sich angeboten, mich abzuholen und morgen früh wieder zum Start zurückzubringen. Die Aussicht, kurzfristig aus meiner Pilgerhaut zu schlüpfen und mit ihnen einen Abend - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei gutem Wein und ebenso gutem Essen - zu verbringen, war einfach zu verlockend - und ich gestehe, ich bin in dieser Hinsicht auch leicht verführbar.
Deshalb darf ich heute nicht trödeln. Nicht nur, damit ich rechtzeitig am vereinbarten Treffpunkt bin, sondern vor allem, damit ich diese Etappe, bis jetzt die längste, auch schaffe. Bei der Vorbereitung dieser Pilgerreise habe ich nämlich etwas - für mich - „Unpilgerliches“ getan, etwas, wovon ich allen, die mich um Rat fragen, dringend abrate: Ich habe mir einen Termin gesetzt, zu dem ich in POITIERS sein will/muss. Es gibt dafür freilich eine gute Erklärung. Ute, eine gute Freundin aus Kärnten, die seit über 20 Jahren in PARIS lebt, kommt am 10. Juli (Samstag) mit dem Zug nach POITIERS. Sie hat sich ein paar Tage freigenommen (sie ist Assistentin an der Uni) und möchte mich ab POITIERS für vier Tage begleiten. Treffpunkt am Abend des 10. Juli in der Jugendherberge in POITIERS. Die 21 Etappen, in welche in meinem Buch die Strecke bis POITIERS eingeteilt ist, muss ich also in 20 Tagen bewältigen, indem ich jeden Tag einen kleinen Vorsprung auf die Marschtabelle meines Buches herausgehe.
Deshalb früh raus aus den Federn, beim Frühstück mit der freundlichen Bäuerin nicht allzu lange Konversation betreiben, und gleich zurück zur Rigole, von der ich mich heute verabschieden muss. Ich werde sie aber gegen den auch sehr schönen Nantes-Brest-Kanal eintauschen, der mir bis einen Tag vor NANTES immer wieder Gesellschaft leisten wird.
Das Gehen an der Rigole ist ein reines Vergnügen, die Kilometer „fliegen“ fast an mir vorüber. Jetzt, am fünften Tag, spüre ich, wie mein Körper seinen Rhythmus findet, das Gehen wieder zur normalen Lebensform und von ihm nicht als ungewohnte Belastung empfunden wird. So mache ich die erste kurze Apfel-Wasser-Pause erst nach über zwei Stunden genau dort, wo es auch Zeit ist, der Rigole den Rücken zu kehren - und wo ich beim letzten Mal mit Ajiz im Schatten der Bäume Rast gemacht habe. Er fehlt mir sehr und die Trauer über seinen Tod verstärkt noch das Gefühl der Einsamkeit, das ich gerade empfinde. Da hilft nur eines - Gehen! Auch am Kanal komme ich gut voran, hier begegne ich ab und zu Joggern oder Radfahrern, aber immer noch keinem Pilger. Dafür erlebe ich jedoch wieder einmal die spontane und herzliche Gastfreundschaft der Bretonen Fremden (oder kommen
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