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Auch Santiago hatte einen Hund

Auch Santiago hatte einen Hund

Titel: Auch Santiago hatte einen Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Lindenthal
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wechselte ich die Straßenseite, damit Ajiz, wenn er aus dem Feld herausliefe, um zu mir zu kommen, nicht die Straße überqueren müsse. Jedoch nicht rasch genug. Ajiz schoss in hohem Tempo aus dem Feld, so schnell, dass die Fahrerin trotz ihrer geringen Geschwindigkeit nicht mehr bremsen konnte. Er verschwand unter dem Auto, wir hörten ein Rumpeln (es tat mir in den Ohren weh!), dann tauchte er am Heck des Autos zwischen den Rädern wieder auf und rannte vor Schmerz jaulend in das Weinfeld zurück, aus dem er eben gekommen war. Wohin war er wohl gelaufen? Da ich wusste, dass sich Tiere, wenn sie verletzt sind, in eine Höhle zurückziehen, um dort ihre Verletzung auszukurieren oder zu sterben, befürchtete ich schon das
    Schlimmste. Wir wussten zwar, dass er verletzt sein musste, jedoch nicht wie schwer. Und da wir ihn trotz intensiver Suche zu viert -die Töchter meiner Freunde halfen mit - bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht fanden, schienen sich meine Befürchtungen zu bestätigen: Er schien spurlos verschwunden. Wieder einmal (wie oft noch?) meldete ich sein Verschwinden bei der Gendarmerie; dann versuchte ich zu schlafen, aber Gedanken kreisten mir im Kopf: Wo war mein Ajiz? Würde ich ihn jemals wieder finden? War er irgendwo, mutterseelenallein, gestorben?
    Wir sitzen beim Frühstück, die Stimmung ist nach wie vor gedrückt; wir unterhalten uns darüber, was wir noch unternehmen könnten, um Ajiz zu finden. Aber wir sind ratlos, keinem von uns fällt etwas Vernünftiges ein. In diesem Moment höre ich ein leises Kratzen an der Terrassentür. Als ich die Vorhänge zur Seite schiebe, blicke ich in die sanften, leicht schuldbewussten Augen von Ajiz! Unter dem Jubel aller Anwesenden humpelt er steif herein: Er hat vom Zusammenstoß nichts weiter als ein paar Prellungen davongetragen! Heißhungrig verschlingt er sein Frühstück, heute selbstverständlich besonders reichhaltig.
    Im Rückblick wird mir bewusst, dass ich schon damals allen Grund gehabt hätte, vom Prinzip „leinenlos“ abzugehen. Denn mit einem angeleinten Ajiz hätte ich die meisten dieser Abenteuer nicht erlebt und mir all diese Sorgen nicht machen müssen. Damals dachte ich jedoch keinen Augenblick daran, nie kamen mir Zweifel an meiner „Linie“. Sicher bin ich damit ein großes Risiko eingegangen, wie viel hätte passieren können! Dass unsere Beziehung eben deshalb so eng und besonders war, weil ich von Anfang an konsequent Leine durch Bindung zu ersetzen versucht habe, ist aber auch klar. Und dass höchstwahrscheinlich ein ausgesprochen fleißiger und effizienter Schutzengeltrupp ebenfalls seine Hand im Spiel hatte, nehme ich dankbar zur Kenntnis...
     
    10
     
    MITTWOCH, 30. JUNI
    REDON - L’ONGLE
     
    Heute peile ich meinen Schlafplatz im Freien aus völlig freien Stücken an, während ich vorgestern nur durch das geschlossene Gîte dazu gezwungen war. Seit Tagen freue ich mich schon auf den Eichenhain in einer engen Schleife des Flusses Isac, welche die Form eines Fingernagels hat ( l’ongle bedeutet auf Französisch der Fingernagel ): einer der schönsten Plätze auf dem bretonischen Jakobsweg, an ihm vorbeizugehen ist undenkbar! Noch sitze ich aber im Speiseraum der Jugendherberge, allein; kein Frühstücks-Plausch wird meinen zeitigen Aufbruch verhindern! Zum ersten Mal seit Tagen werde ich die relative Frische des frühen Vormittags ausnützen.
    Sie hält dann aber nicht lange an, viel zu schnell weicht sie einer schwülen Hitze, die fast die ganze Woche über schon in der Süd-Bretagne herrscht und mir zu schaffen macht. Aber ich will nicht jammern: Erstens ist mir das immer noch lieber als das nasse, kalte Wetter der ersten Tage; und zweitens mache ich ja eine Pilger- und keine Vergnügungsreise. (Da spricht wohl der Masochist aus mir.) Die beinahe unwirkliche Schönheit der Flusslandschaft entschädigt mich jedoch vollauf. Für einen langen Abschnitt ist der Kanal identisch mit dem Fluss Isac, der träge durch eine Landschaft fließt, die mich ein bisschen an die Küstenlandschaft im Süden Senegals erinnert. Abgesehen von ein paar Strommasten und natürlich dem Treppelweg, auf dem ich südwärts strebe, sind weder Menschen noch ihre Spuren zu sehen: keine Straße, keine Ansiedlung, nicht einmal ein Haus. Im Gegensatz zu den in regelmäßigen Abständen gepflanzten Bäumen, die sonst den Kanal säumen, erstreckt sich hier, so weit das Auge reicht, eine üppige Vegetation in faszinierender Vielfalt, immer wieder

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