Auch Santiago hatte einen Hund
ihn bei mir im Zimmer schlafen zu lassen, war geprägt vom Wunsch, uns rasch aneinander zu gewöhnen. Auch in St. Sigmund sollte Ajiz in meinem Zimmer im zweiten Stock schlafen: Ich wollte einen Gefährten und keinen Wachhund -auch wenn er diese Funktion automatisch und verlässlich übernahm, wenn wir auf einer unserer zahlreichen Pilgerreisen im Freien schliefen. In meiner Wohnung in Innsbruck, die ebenerdig liegt, war er sehr schnell stubenrein geworden. Ein einziges Mal hatte er sein großes Geschäft in der Wohnung gemacht, direkt an der Tür, die nach außen in den Garten führt, aber geschlossen war. Hätte ich sie für ihn geöffnet, wäre er rausgegangen: irgendwie also meine Schuld. In St. Sigmund wohnten wir im zweiten Stock. Ajiz schien sehr schnell verstanden zu haben, dass er für sein Geschäft hinuntergehen musste, aber zweimal verzählte er sich und erledigte selbiges vor der - geschlossenen - Balkontür im ersten Stock. Da konnte ich ihm wirklich nicht böse sein. Böse war ich ihm schon auch, manchmal schlug ich ihn sogar - was mir heute noch bitter leid tut. Bestimmte Dinge konnte er als junger Hund einfach noch nicht wissen, ich war derjenige, der nicht verstand!
Einmal wurde ich nächtens von einem regelmäßigen, knackenden Geräusch geweckt. Als ich Licht machte, sah ich, wie Ajiz in seiner Schlafecke mit höchster Konzentration und mit Genuss meine Armbanduhr zerbiss. Anscheinend hatte er mit seinem unendlich feinen Gehör das für unsere Ohren gar nicht wahrnehmbare Ticken der batteriebetriebenen Uhr vernommen und sich verpflichtet gefühlt, das lästige, winzige Tier zum Schweigen zu bringen. Was ihm auch gelang. Ich verstand damals rein gar nichts, war außer mir wegen der zerbissenen Uhr und schlug ihn. Ich kann nur hoffen, dass er mir verziehen hat... Mich tröstet, was die Indianer des Südwestens der USA diesbezüglich über ihre Hunde sagen:
„Ob du deinen Hund angebrüllt oder gestreichelt hast, es ist einerlei. Immer erwidert er es mit Liebe. Der Grund dafür liegt nicht in seiner Dummheit oder Unterwürfigkeit, sondern in seinem tiefen, mitleidsvollen Verständnis für deine Schwäche. Er kennt dich und ist da, um dir zu helfen.“
12
FREITAG, 2. JULI
MANCELLIERE-RICHARD - NANTES (LE VERTOU)
Als ich erwache, lacht die Sonne vom Himmel. Ich lache zurück und freue mich am Leben. Heute denke ich viel an Ajiz, erinnere mich an alle Plätze, wo wir vor einem Jahr noch gemeinsam gerastet haben. Ich vermisse ihn sehr, meinen Freund. So tief bin ich in meine Gedanken versunken, dass ich bei einer Kreuzung falsch abbiege - und das auf dem Weg, den ich schon gegangen bin und den ich im Detail in meinem Buch beschreibe! Da muss ich über mich selbst lachen. Gott sei Dank habe ich den Irrtum sehr rasch bemerkt und kaum Zeit verloren. So schnell kann’s gehen! Ein Moment der Unaufmerksamkeit bei einer Abbiegung - und schwupp, schon geht man falsch! Immer wieder ins Buch schauen, auf jeden Fall öfter, als du es für notwendig hältst, schärfe ich mir daraufhin zum x-ten Mal ein, wissend, dass es doch wieder passieren wird.
Die Regenfront ist in der Nacht durchgezogen, ab elf Uhr wird es wieder höllisch heiß. Bei einem malerischen Steinhaus im bretonischen Stil kann ich meinen Wasservorrat auffüllen, nicht ohne einen kurzen, anregenden Wortwechsel mit dem Hausbesitzer. Zu Mittag bin ich schon in ORVAULT. Mit einem frischen Baguette von der Bäckerei gegenüber der Kirche Saint-Leger versehen mache ich mich auf die Suche nach einem schattigen Plätzchen für meine heiß ersehnte Siesta und werde in einem Park am Stadtrand von NANTES, bis 1563 Hauptstadt und Sitz der Herzöge der Bretagne, fündig.
Wie durchquert der Pilger von heute eine Großstadt, über der die Sonne brütet? Ich möchte es ganz undogmatisch beantworten: Er bedient sich öffentlicher Verkehrsmittel. Auch mein Purismus kennt Grenzen: Wenn einem Pilger im Mittelalter eine „Mitfahrgelegenheit“ auf einem Fuhrwerk angeboten wurde, hat er das Angebot sicher nicht ausgeschlagen; ich schlage halt das Angebot der Verkehrsbetriebe von NANTES nicht aus. So gelange ich rasch, billig und bequem ans südliche Loire-Ufer zum Hôpital Saint-Jacques, dem früheren Jakobshospiz aus dem 12. Jahrhundert mit der angrenzenden Jakobskirche. Auf mich warten noch sechs Kilometer Fußmarsch entlang der Sèvre bis zum Campingplatz LE VERTOU. Die Hitze macht mir wieder sehr zu schaffen, ich muss auf halber Strecke einfach noch
Weitere Kostenlose Bücher