Auch Santiago hatte einen Hund
gemeinsamen Sommer geschah es immer wieder, dass Begegnungen mit anderen Wanderern, vor allem wenn es Gruppen waren, Ajiz in tiefe Verwirrung stießen. Man blieb stehen, begrüßte sich, wechselte manchmal ein paar Worte über das Wetter, den Weg, den wunderschönen Hund - und ging dann seiner Wege. Doch Ajiz kannte sich nicht mehr aus: „Da hat sich nun endlich ein richtiges Rudel gefunden, das zu begleiten sich für mich lohnt - und jetzt trennen sie sich wieder! Wo werde ich mehr gebraucht, mit wem soll ich nun mitgehen?“ Er blieb dann ratlos am Platz unserer Begegnung zurück, blickte fragend von einer zur anderen Gruppe und ging gar nicht selten mit jener Gruppe weiter, zu der er definitiv nicht gehörte! Mich beleidigt und eifersüchtig zurücklassend. Ja, meine Position des Rudelführers kam mir nicht automatisch nur deshalb zu, weil ich es einseitig so beschlossen hatte. Für Ajiz musste ich sie mir erst verdienen, auch wenn ich größer und stärker war als er -schneller nicht, das wusste ich schon - und das Geld hatte, ihn mir zu kaufen. Sein Rudelführer wurde ich erst im Laufe der Zeit...
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DONNERSTAG, 1. JULI
L’ONGLE - MANCELLIERERICHARD
Die bisher längste Etappe steht mir bevor. Es ist kühl, der Himmel bedeckt, seltsame Stimmung - nichts fürs Gemüt, aber gut zum Gehen. Ich beschließe „Kilometer zu machen“. Das Gehen am Kanal wird langsam eintönig, die Landschaft ist flach und uninteressant geworden, aber ohne Steigung kann ich am Treppelweg ein flottes Tempo einschlagen. In BLAIN kehre ich dem Kanal endgültig den Rücken - au revoir et merci für die schöne Zeit an deinen Ufern! Ab BLAIN ist es dann das Gleisbett der vor 50 Jahren aufgelassenen Eisenbahn, heute ein Feld- bzw. Wanderweg, auf beiden Seiten bepflanzt, auf dem ich wie in einem grünen Tunnel rasch vorankomme. Erster Höhepunkt des heutigen Tages ist eindeutig die Mittagsrast unter der riesigen Eiche auf dem kleinen Hügel mit der Wallfahrtskirche zum hl. Rochus aus dem 15. Jahrhundert auf seiner Spitze. Wind kommt auf, der mir immer öfter von irgendwoher Regentropfen zutreibt; ich bin heilfroh um den Schutz, den mir das Geäst des großen Baumes bietet. (Auf meinen Pilgerreisen hat sich meine Beziehung zu Bäumen eindeutig von Sympathie zur uneingeschränkten Begeisterung hin entwickelt.) Da ich mit BLAIN auch die letzte Übernachtungsmöglichkeit bis NANTES noch vor der Mittagspause hinter mir gelassen habe, die über 30 Kilometer von SAINT-ROCH bis ORVAULT, einem Vorort von Nantes, mit Sicherheit heute aber nicht mehr schaffen werde, weiß ich schon jetzt, dass ich im Freien oder im Zelt übernachten werde - das Wetter wird entscheiden. Ich vertraue mich im Übrigen meinem Beschützer an, bisher hat er mich nie enttäuscht. Auch diesmal schaut er auf mich. Nicht nur wird das Wetter besser, hört der Regen auf, kommt sogar die Sonne heraus und zaubert eine wundervolle Stimmung in die Landschaft; nicht nur finde ich einen schönen Schlafplatz auf einer Wiese unweit eines Bächleins; nein, er schenkt mir auch noch eine Begegnung der zauberhaften Art und damit einen krönenden Abschluss des Tages. Eine hübsche, rothaarige Frau kommt auf ihrem Abendspaziergang mit ihren zwei Kindern an meinem Lagerplatz vorbei, die sich natürlich sofort brennend für den fremden Mann interessieren, der allem Anschein nach ein abenteuerliches, tolles Leben führt. Schnell verlieren sie jegliche Scheu vor mir und durchlöchern mich mit - übrigens sehr vernünftigen -Fragen: Woher kommst du, wie viele Sprachen sprichst du, wo schläfst, was isst du, bist du nicht sehr einsam, wie sind die Menschen zu dir? Bereitwillig gebe ich ihnen Auskunft, meine Augen ruhen jedoch die meiste Zeit auf ihrer Mutter. Das weibliche Element geht mir während meiner Pilgerreise schon ziemlich ab, das gebe ich gerne zu.
In der Nacht hat sich der Himmel offensichtlich wieder bedeckt, denn um 4 Uhr 30 morgens weckt mich ein Regenschauer. Im Schlafsack ist es aber so wohlig warm und ich bin so verschlafen und faul, dass ich mich damit begnüge, den Regenumhang über den Schlafsack zu ziehen, in der Hoffnung, dass der Guss sich nicht zum Dauerregen auswächst. Man erhört meine Gedanken, kein weiterer Gruß folgt, für den Rest der Nacht bleibe ich unbehelligt.
Den heutigen Tag widme ich meinem Vater. Mögen meine Eltern all das in irgendeiner Weise zurückbekommen, was sie uns Kindern gegeben haben.
Noch so viel zu lernen
Die Entscheidung,
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