Auch Santiago hatte einen Hund
karelischen Bärenhunde auch nur dafür verwendet: das Wild aufzuspüren, zu verfolgen und zu stellen.
Meine Wohnung in Innsbruck befand sich in unmittelbarer Nähe des Alpenzoos, an dem wir jahrelang mehrmals in der Woche vorbeigingen - und dabei immer am Zaun des Reh- und Hirschgeheges stehen blieben. So kannte Ajiz ihren Geruch und ihr Aussehen und gewöhnte sich daran, ihnen nicht nachzulaufen. In St. Sigmund hingegen holten wir täglich frische Milch beim Gabi-Hof, sodass Ajiz mit Kühen, Schafen, Katzen und Hühnern vertraut war. Ich bin sicher, dass diese Art der Sozialisierung viel, gewiss nicht alles, von seiner Jagdleidenschaft eindämmte.
Eine riesige Überraschung erlebte ich bei einer unserer Bergwanderungen, als er, weit über der Waldgrenze, lustvoll einige Murmeltiere verfolgte und tatsächlich eines erwischte. Normalerweise verschwanden sie ja blitzschnell in ihrem Bau, wohin ihnen kein Hund folgen konnte. Ich rief ihn sofort scharf zurück und er trottete heran, mit dem Murmeltier im Maul, als wolle er mir stolz seine Beute zeigen. Ich nahm sie ihm ab, schimpfte ihn kräftig und schob das leblose Tier unter einen Felsen, wo ich es zusätzlich noch mit einem Stein vor dem Zugriff von Aasfressern sicherte. Wenige Tage später war ich mit kubanischen Freunden im selben Gebiet unterwegs. Die umliegenden Berggipfel - so hoch waren sie noch nie gewandert - flößten ihnen großen Respekt, sogar Angst ein, und Murmeltiere hatten sie natürlich auch noch nie gesehen. Ein totes zumindest wollte ich ihnen zeigen, wobei ich an Ajiz’ Beute dachte, die unweit versteckt lag. Doch als ich den Stein unter dem Felsen hervorzog, fand sich dort kein Murmeltier mehr! Meine Freunde waren enttäuscht, ich stand vor einem Rätsel. Wie war es da herausgekommen, wo doch der Stein unverrückt da lag? Die einzige Antwort konnte nur sein, dass sich das Murmeltier bloß tot gestellt hatte und, nachdem wir, die Bedrohung, wieder abgezogen waren, unter dem Felsen hervorgekrochen war und sich in Sicherheit gebracht hatte. Wenn dem so war, hatte Ajiz es nicht getötet - und darüber war ich von Herzen froh.
Einige Wochen darauf erzählte ich Severin, dem Aufsichtsjäger des Gleirschtals (mit dem ich mich übrigens bestens verstand und der Ajiz ebenfalls sehr gerne mochte) von diesem Rätsel und meiner Vermutung. Er bestätigte meine Ansicht und erzählte mir lachend, dass ihm einmal etwas Ähnliches widerfahren war. Sein Hund hatte ihm ein scheinbar totes Murmeltier apportiert, das er einem deutschen Gast, der ihn begleitete, in die Arme gelegt hatte, damit dieser fühlen könne, wie dick und dicht das Fell eines Murmeltiers am Ende des Sommers sei. Doch urplötzlich hatte dieses einen seiner berühmten Pfiffe von sich gegeben, den zu Tode erschrockenen Mann in den Arm gebissen und war verschwunden. Gott sei Dank hatte dieser kein schwaches Herz gehabt, sonst hätte es vielleicht wirklich einen Toten gegeben - halt nicht das Murmeltier!
19 FREITAG, 9. JULI
CHAPELLE-BERTRAND - LAVAUSSEAU
Das Wetter bleibt wechselhaft, der Poncho muss griffbereit bleiben. Schon komisch, dass der erste Blick am Morgen ins Freie, zum Himmel geht, er gilt dem Wetter. Doch auch logisch, von diesem hängt ja großteils meine Stimmung ab. Kein Wunder, Pilgern ist ein hundertprozentiger „Outdoor-Beruf“.
Heute wird meine Mittagspause wieder durch einen plötzlich einsetzenden Regenguss abgekürzt. Das macht mich zwar grantig, hat aber auf Grund der Kürze der heutigen Etappe keinen nennenswerten Leistungsabfall am Nachmittag zur Folge. Ein weiterer, extrem heftiger Guss zwingt mich dann zu einer außerplanmäßigen Pause in einem Schafstall, in Gesellschaft der ganzen Herde, die den unerwarteten Besucher freudig blökend umringt. LAVAUSSEA, mein Ziel, war seit dem 12. Jahrhundert eine wichtige Niederlassung des Ritterordens der Johanniter, mit einem großen Wirtschaftsbetrieb (Gerberei), einer Johanneskapelle und einem Pilgerhospiz. Dieses dient schon lange nicht mehr seinem ursprünglichen Zweck und wird zur Zeit restauriert. Entsteht da etwa wieder eine Pilgerherberge? Wie auch immer, ich werde mit dem camping à la ferme, dem Zeltplatz am Bauernhof, vorlieb nehmen müssen. Aber erfahrungsgemäß sind solche Plätze sehr gastfreundlich, weil kleiner und persönlicher. Oft wird zudem für die Gäste preisgünstig und ausgezeichnet aufgekocht ( repas à la ferme, mit Produkten vom Hof), und ich werde gerne von diesem Angebot Gebrauch
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