Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auch Santiago hatte einen Hund

Auch Santiago hatte einen Hund

Titel: Auch Santiago hatte einen Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Lindenthal
Vom Netzwerk:
beginne ich an Wunder zu glauben. Vor wenigen Minuten sah ich mich schon allein und verzweifelt, in Nässe, Kälte und ohne Schlafplatz, und jetzt dies! Danke, Jakobus!
    Zur Feier dieses Wunders hole ich mir von der mobilen Pizzeria -ein umgebauter Citroën-Lieferwagen am Parkplatz vor der Kirche - eine Schinken-Käse-Pizza, gebacken im Holzofen. Mein Gott, bin ich froh! Jetzt muss nur noch die Achillessehne besser werden, dann ist alles wieder in Ordnung.
     
    Die Nacht des Langstreckenläufers
     
    Mehrmals schon hatte ich die Gelegenheit gehabt, angesichts des ausgeprägten Orientierungssinns von Ajiz einfach nur zu staunen. Frau Markl, die Züchterin, bestätigte meine Beobachtungen und versicherte mir, dass „du einen karelischen Bärenhund nicht verlieren kannst, denn er verliert dich nie“. Im Oktober 1992 erbrachte Ajiz dann den definitiven Beweis für die Richtigkeit dieser Aussage, er errang gewissermaßen den „mitteleuropäischen Meistertitel“ im Orientierungslauf auf große Distanz.
    Es war der Abend eines wunderschönen Herbsttages in St. Sigmund. Die Luft war klar und kühl gewesen, die Silhouetten der Berge ringsum hatten sich wie Scherenschnitte gegen den dunkelblauen, wolkenlosen Herbsthimmel abgezeichnet und die Lärchen, schon in ihrem Herbstgewand, hatten bunte, gelb-rote Flecken in die dunkelgrüne Wand des Fichtenwaldes gemalt. Jetzt, nach Sonnenuntergang, war die Luft vom Rauch der ersten Herdfeuer gewürzt, denn die Nächte waren schon spürbar kühl. Die Seminargruppe hatte ihr Programm am Nachmittag beendet, alle Teilnehmer hatten das Haus bereits verlassen. Ich war mit dem Aufräumen schnell fertig geworden und genoss das seltene Vergnügen, das Haus für mich allein und nichts mehr zu erledigen zu haben. Weil der Abend wirklich so sagenhaft schön war, beschloss ich, nicht wie geplant ebenfalls nach Hause zu fahren, sondern über Nacht zu bleiben und erst am nächsten Tag, nach einem ausgiebigen und gemütlichen Sonntagsfrühstück, nach Innsbruck zurückzukehren.
    Vor dem Schlafengehen machte ich noch meine obligate Gutenacht-Runde mit Ajiz. Es war Mitternacht, der Mond stand als weiße Scheibe am sternenklaren Himmel, kein Mensch war mehr im Dorf unterwegs, Ajiz und ich waren vollkommen allein. Nein, nicht vollkommen, denn ich hörte ein raschelndes Geräusch im Gebüsch am Wegrand: eine Katze, vielleicht sogar ein Hase, den wir aufgeschreckt hatten, ich werde es nie wissen; Ajiz schon eher, denn er beschloss, der Ursache dieses Geräuschs auf den Grund zu gehen, und verschwand im Unterholz, bevor ich überhaupt reagieren konnte. Pfeifen und Rufen blieben ohne Ergebnis, allzu laut wollte ich nicht werden, schließlich befand sich das gesamte Dorf schon in tiefem Schlaf. Auch eine nochmalige Suchrunde brachte nichts, und so ging ich ohne Ajiz zum Haus zurück und ins Bett, mittlerweile war es ein Uhr früh geworden. Ich ärgerte mich eher, als dass ich mir Sorgen machte, er wusste ja, wo ich war. „Dann muss er halt die Nacht im Freien verbringen, selber schuld, morgen früh wird er wohl mit schlechtem Gewissen vor der Tür auf mich warten.“ Mit diesen Gedanken schlief ich ein. Doch am nächsten Morgen kein Ajiz weit und breit! Ich entdeckte zwar seine Spuren auf der Schattenseite des Hauses - dort lag noch Schnee vom ersten Wintereinbruch -, er war anscheinend zum Haus zurückgekommen, dann aber wieder gegangen. Wohin? Vom gemütlichen Frühstück war keine Rede mehr, denn jetzt machte ich mir wirklich Sorgen um ihn. In meiner Phantasie sah ich ihn schon tot auf den Schultern des Jägers, der ihn beim Wildern ertappt hatte. Ich fragte alle im Dorf nach ihm, keiner hatte ihn gesehen. Ich ging alle unsere Wanderwege ab, bis hinein ins Gleirschtal, keine Spur von Ajiz. Bis ins Nachbardorf führte mich meine Suche, ohne Ergebnis. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Es war Nachmittag geworden, irgendwann musste ich nach Innsbruck, auch ohne ihn. Bei den Nachbarn hinterließ ich meine Innsbrucker Telefonnummer mit der Bitte, mich zu verständigen, wenn Ajiz auftauchen sollte, obwohl ich eigentlich gar nicht mehr so richtig daran glaubte. Bevor ich das Haus abschloss, rief ich noch meine Vermieter (und Freunde) in Innsbruck an. Ich suchte einfach jemanden, wo ich meine Angst um Ajiz loswerden konnte - sie kannten ihn gut und mochten ihn sehr. Lena, ihre jüngste Tochter, war am Apparat, und als ich mich meldete, begrüßte sie mich vorwurfsvoll: „Wo bleibst du denn, der Ajiz wartet

Weitere Kostenlose Bücher