Auch Santiago hatte einen Hund
machen.
Kaum im Dorf angekommen, steuere ich voll Vorfreude die angegebene Adresse des Bauernhofs an. Zuerst glaube ich mich geirrt zu haben, denn ich stehe vor einem ziemlich verwahrlosten Gebäude, besonders der Eingangsbereich macht einen heruntergekommenen, kaum benützten Eindruck: von Campingplatz oder Bauernhof keine Spur, auch Menschen sehe ich keine. Doch die Adresse stimmt (ich schau’ noch einmal im Buch nach), also versuche ich es auf der Rückseite des Hauses. Dort öffnet mir nach längerem Klopfen ein junger Bursche, der das Rätsel um dieses Haus endlich löst. Nein, Campingplatz betreiben seine Eltern schon lange nicht mehr; nein, seine Eltern sind in Paris, sie kommen erst am Abend zurück; nein, Zimmer vermieten sie auch keine, nur eine Ferienwohnung, aber die ist schon besetzt; und abermals nein, er kann mir nicht erlauben, mein Zelt im - verwahrlosten - Garten aufzustellen, außerdem gibt es kein Wasser; Klo und Dusche des ehemaligen Campings gehen schon lange nicht mehr; nun ja, er weiß auch nicht, warum die Adresse noch im Gemeindeprospekt steht; na schön, wenn ich will, kann ich auf seine Eltern warten, aber er sagt mir gleich, das kann spät werden.
Gut, ich warte. Mein Zorn überwiegt meinen Frust. Zorn auf die Besitzer dieses heruntergekommenen Anwesens und auch auf die Gemeinde wegen der Fehlinformation; Zorn auf mich selber, weil ich diese Information nicht überprüft habe (ein Anruf hätte genügt!), und weil ich mir das Ankommen und den Abend so schön ausgemalt habe. (Mehr Realismus und mehr Misstrauen, ist das die Lösung?) Und Zorn überhaupt, ich habe die Schnauze voll! Wut tut gut, ich beruhige mich, und der Zorn macht einer ruhigen Entschlossenheit Platz. Da muss ich einfach durch, ich hab schon schwierigere Situationen gemeistert, dann werde ich die auch noch bewältigen!
Hinter dem Haus, etwas abseits gelegen, entdecke ich einen Hundezwinger, in dem sich ein einziger, wunderschöner, offensichtlich noch sehr junger Hund befindet. Sofort nähere ich mich und sehe, dass es ein sehr edler Jagdhund, eine Art Spaniel, ist, um den sich anscheinend niemand kümmert und der den Zwinger offenbar nie verlässt. Der Boden des Zwingers ist mit frischem und altem Hundekot übersät. Gereinigt wird also auch nie, und der arme Hund muss in seinem eigenen Kot liegen. Stan - so heißt er nach Auskunft des Burschen - kommt gleich ans Gitter, drückt seine Schnauze gegen die Maschen und sieht mich unendlich traurig und zärtlich an. Da öffne ich die Zwingertür einen Spalt (soll der junge Santerre nur ein einziges Wort sagen, dann kann er sich von mir was anhören!), nehme den armen Stan in die Arme und streichle ihn lange. Das passt so perfekt zum Gesamteindruck, den ich von der Familie Santerre habe! Um acht Uhr habe ich vom Warten genug - es war ohnehin nur ein Akt des Trotzes und ein Vorwand, länger bei Stan zu bleiben.
Wäre ich gerne Gast der Familie Santerre? Sicher nicht! Zuerst einmal gehe ich ins Dorfbistro, um den letzten Rest meines Zorns mit einem demi (paradoxerweise keine Halbe, sondern 0,3 Liter) hinunterzuspülen. In LAVAUSSEAU gibt es sonst keine Unterkunft, andere Möglichkeiten liegen weitab von meinem Weg, auf jeden Fall zu weit für einen Fußgänger, wie ich von der netten Dame im Bistro erfahre. Zu meinen Klagen über die Familie Santerre, die Verursacher meines Zorns, nickt sie nur zustimmend. Anscheinend sind sie generell im Dorf alles andere als beliebt. Ich könne aber ohne weiteres mein Zelt auf dem Platz unterhalb der ehemaligen Johanniterkommende aufstellen. Sie sei im Gemeinderat, ich könne auf sie verweisen, falls sich jemand aufrege.
Das Zelt ist schnell aufgestellt, Pilgerroutine verdrängt den Zorn. Sogar mein bescheidenes Pilgermenü (Suppe, Brot und Wein, das hab ich immer im Rucksack, so vorausschauend bin ich da schon) schmeckt mir schon wieder. Auf das repas à la ferme der Madame Santerre pfeife ich doppelt und dreifach! (Ich habe einen Blick in die vollkommen verdreckte Küche des Hauses werfen können - wahrscheinlich muss ich meinem Beschützer eh dankbar sein, dass er mich vor den Santerres bewahrt hat.) Da habe ich es ja doch wieder gut getroffen, denke ich mir, während ich meine Gute-Nacht-Zigarette (die einzige am Tag) rauche, zu den Johannitern hinüberschaue und zuhöre, wie die ersten Tropfen eines leichten Nachtregens auf das Zeltdach fallen. Es ist erstaunlich, wie locker und selbstverständlich die Franzosen mit Reisenden umgehen,
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