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Auch Santiago hatte einen Hund

Auch Santiago hatte einen Hund

Titel: Auch Santiago hatte einen Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Lindenthal
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weiter, würde ich einfach auf Jakobus und meinen Instinkt vertrauen und einmal richtig „in die Fremde“ gehen (siehe peregrinus). Ute möchte ich so etwas aber nicht zumuten, deshalb habe ich in der Vorbereitung der vier Tage versucht, anhand der immer noch sehr guten IGN-Karten im Maßstab 1:100.000 mindestens bis ANGOULEME - so weit werden wir in etwa kommen - vier Etappen festzulegen, die sowohl über möglichst kleine, nicht asphaltierte Straßen und möglichst direkt nach Süden führen als auch in einer größeren Ortschaft enden, wo die Chancen auf einen akzeptablen Schlafplatz größer sind.
    Es ist Sonntag, früh am Morgen, als wir die noch schlafende Stadt verlassen. Nur ein paar Jogger begegnen uns auf den Wegen am Ufer der Clain, die sich vom Zentrum nach Süden schlängelt, hinein in die fruchtbare Ebene, die wir bald zu Fuß durchqueren werden. Zu dieser frühen Stunde sind kaum Autos unterwegs, fast ungestört kommen wir auf den kleinen Straßen der Vororte voran, wenn wir einen der Mäander des Flusses abschneiden. Und bald sind wir nur mehr von wogenden Weizen- und Sonnenblumenfeldern umgeben. Beim Aufbruch von der Jugendherberge hatte ich geglaubt, das Wetter hätte sich endlich für „gut“ entschieden, nur wenige Wolken hatten den makellos blauen Himmel mit ein paar weißen Tupfern gesprenkelt. Doch bald werden wir (wir statt ich, das ist schon eine Freude) eines Besseren belehrt. Wie bereits während der vergangenen Tage zieht im Laufe des Vormittags eine dichte Wolkenschicht auf, es wird heiß und schwül, und ständig droht Regen, was uns vereinzelt fallende Tropfen auch immer wieder in Erinnerung rufen. All das tut freilich meiner Freude darüber keinen Abbruch, nach drei Wochen der Einsamkeit, des Schweigens bzw. der Selbstgespräche sogar so etwas wie das nicht optimale Wetter mit jemandem teilen zu können. Zudem ist Ute, die in PARIS im Bois de Vincennes mehrmals in der Woche laufen geht, gut in Form. Ihr Gehrhythmus entspricht dem meinen, in der Hinsicht werden also keine großen Anforderungen hinsichtlich Flexibilität und Anpassungsvermögen an mich gestellt werden. Ich bin beruhigt, denn natürlich war und ist mir bewusst, dass ich zwar Einsamkeit gegen Zweisamkeit eintausche, dafür aber all die kleinen Entscheidungen, die ich seit meinem Aufbruch immer allein getroffen habe, während der kommenden vier Tage mit Ute gemeinsam zu treffen habe. Gehrhythmus, Pausen, Speiseplan, Schlafplatz usw., halt alles! Und so gut kenne ich mich schon, um zu wissen, dass dies nicht gerade meine Stärke ist.
    Wir haben uns vor 20 Jahren zu Silvester bei Freunden im Pinzgau kennen gelernt und bei einer gemeinsamen Schitour festgestellt, dass wir uns sympathisch waren. Seither sehen wir uns hin und wieder, entweder in Kärnten oder in ihrer Wahlheimat Frankreich, und meistens steht eine gemeinsame Wanderung auf dem Programm. Ganz von ungefähr habe ich Ute also nicht gefragt, ob sie Lust hätte, mit mir einmal auf einem französischen Jakobsweg zu pilgern.
    Die erste Mittagsrast findet am Rand des Flugfeldes eines Segelflieger-Clubs statt, im Schutz des vorspringenden Daches des Clubhäuschens. Schutz deshalb, weil ein starker, unangenehmer Wind weht und die nun nicht mehr nur vereinzelt fallenden Tropfen noch mehr Himmelsnass erwarten lassen. Während Ute die ersten Blasen an ihren Füßen versorgt (anscheinend ist das unvermeidlich, den meisten ergeht es zu Beginn so, trotz eingegangener Schuhe), gesellt sich ein freundlicher Herr zu uns, der uns schon von weitem als Jakobspilger identifiziert hat. Kein Wunder, er war selbst einer: 1985, noch vor dem großen Boom, ging er mit zwei Freunden von THOUARS, einer kleinen mittelalterlichen Stadt nördlich von PARTHENAY, nach Santiago. Er erzählt uns, dass sie sich auf ihrer Pilgerreise ziemlich zerstritten hätten, weil sich ihre Erwartungen und Vorstellungen unterwegs als doch eher unterschiedlich herausgestellt und mitzunehmender Dauer beinahe zur Trennung geführt hätten. Sie wären zwar am Ziel angekommen, aber es habe nachher noch lange gebraucht, bis sie wieder „normalen“ Umgang miteinander pflegen konnten. Er hätte große Lust, noch einmal nach Santiago zu pilgern, aber bitte schön allein! Aha, denke ich mir, ich weiß schon, warum ich allein unterwegs bin - meistens...
    Das Wetter ist alles andere als verlockend, das Gespräch zu angeregt, Utes Füße zu dankbar für jede Minute der Ruhe. So ziehen wir erst um halb vier Uhr weiter.

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