Auch Santiago hatte einen Hund
beginnen mit einem Aperitif in einem Straßencafé gegenüber dem romanischen Juwel der Stadt, der Kathedrale Notre-Dame-la-Grande, dann übersiedeln wir in ein Restaurant, wo wir unsere Gaumen mit lokalen Spezialitäten verwöhnen. Ich entscheide mich für einen farci poitevin, eine Art Krautroulade. Das Ganze begleitet bester Rotwein, ebenfalls aus der Region.
Das Leben ist schön, lasst das Morgen kommen!
Zum Kämpfen gezwungen - nicht geboren...
Eine der herausragenden Eigenschaften von Ajiz war seine schon mehrmals erwähnte Sanftmut, mit der er übrigens das Herz vieler Menschen, besonders Kinder, eroberte. Denn obwohl er ein stattlicher, kräftiger Rüde geworden war, ging er jedem Streit nach Möglichkeit aus dem Weg. So komisch es klingt, in Sachen „Konfliktmanagement“ habe ich viel von ihm gelernt.
Konflikte vermied Ajiz nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, durch Unterwerfung und das Einnehmen bestimmter, in der Körpersprache der Hunde eindeutiger Demutshaltungen, sondern im Gegenteil durch Signale der Offenheit, der Neugier und der unmissverständlichen Nicht-Aggression bzw. durch das konsequente Unterlassen (manchmal sah ich ihm die Anstrengung deutlich an) von Signalen, die als Aggression gedeutet werden konnten. Dadurch wurde die manchmal offensichtliche und nur auf eine falsche Bewegung harrende Aggressionsbereitschaft bei anderen Hunden nicht wachgerufen. Solche Begegnungen endeten meistens mit einem steifen, angespannten einander Umkreisen und ostentativen gegenseitigen Gleichgültigkeits- und Verachtungsbekundungen, manchmal aber auch in freundlichem gegenseitigem Beschnüffeln. Genauso wie Ajiz sich anderen nicht unterwerfen wollte, hasste er es aber auch, seinerseits andere Hunde zu unterwerfen. Damit verkörperte er für mich das anarchistische Ideal der Herrschaftsfreiheit: weder Knecht noch Herr (und ich gebe gerne zu, dass er es besser verwirklichte als ich). Ein einziges Mal konnte er einem Kampf nicht ausweichen, weder durch sein erprobtes Konfliktmanagement noch durch Flucht. Für beides geschah der Angriff zu rasch, zu unerwartet. Ein Schäfermischling fiel ihn während eines Winterspaziergangs ohne jede Warnung plötzlich an. Vielleicht war Eifersucht im Spiel, denn der Schäfermischling - er gehörte Bekannten - schien den Ehrenplatz neben mir zu beanspruchen, den ihm Ajiz jedoch nicht abtreten wollte. Jedenfalls waren die beiden in Sekundenschnelle ein ineinander verkrallter achtbeiniger zweiköpfiger Fellknäuel. Ich hörte Ajiz vor Angst und Schmerzen jaulen, mein lautes Dazwischenrufen schien aber nicht bis zum Aggressor durchzudringen. Auch die Schneebälle, die ich in meiner Verzweiflung aus nächster Nähe auf ihn abfeuerte, prallten völlig wirkungslos an ihm ab. Als sich der Schnee rund um die beiden rot zu färben begann - wessen Blut war es? - , machte ich mir ernsthaft Sorgen um Ajiz, denn sein Gegner war größer, älter, stärker - und blind vor Wut. Doch mit einem Mal wendete sich das Blatt. Allem Anschein nach hatte die Verletzung — später sah ich, dass er an einer Pfote blutete - Ajiz’ Überlebens- und Kampfeswillen aktiviert. Wer sich nicht unterwerfen will, muss kämpfen - wichtige Lehre! Ich hörte seinen Gegner laut aufjaulen, dann löste er sich von Ajiz und trottete, mit einer blutenden Wunde unter einem Auge, deprimiert von dannen. Wir beide, Ajiz und ich, brauchten eine ganze Weile, um unseren Herzschlag wieder zurück auf normal zu bringen, und setzten unsere unterbrochene Wanderung fort. Der andere Hund tat mir zwar ein bisschen leid, aber es überwogen die Erleichterung über den glimpflichen Ausgang des Zwischenfalls und schon auch der Stolz auf meinen friedlichen und dennoch tapferen Ajiz.
5. Kapitel
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Zu zweit -und nicht gereut
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SONNTAG, 11. JULI:
POITIERS - SAINT-MAURICE-LA-CLOUÈRE
Ab heute wird sich zeigen, ob wirklich alle Wege nach Santiago führen. Südlich von POITIERS beginnt Pilger-Neuland nicht nur für mich, denn es gibt keinen Führer oder sonstige Wegbeschreibungen für diese Nebenroute der VIA TURONENSIS. Spannend. Es gäbe zwar die sehr guten Karten im Maßstab 1:50.000 des Institut Geographique National (IGN), aber um die etwa 600 km bis zu den Pyrenäen abzudecken, bräuchte ich ungefähr 30 (!) Stück davon: zu teuer und vor allem zu schwer.
Auf was für ein Abenteuer hat sich Ute da mit mir eingelassen! Ginge ich allein
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