Auch Santiago hatte einen Hund
Noch lange unterhalten wir uns im Gehen über Freundschaft und ihre Gefährdung durch Unternehmungen, Erwartungen und Ansprüche, die ihre Grenzen sichtbar machen oder überschreiten und die Freundschaft daran zerbrechen lassen. Wir sind uns einig, dass jede funktionierende Beziehung - und damit sind nicht nur Paarbeziehungen gemeint - verlangt, immer wieder neu das Gleichgewicht zwischen möglicher Nähe und notwendiger Distanz zu suchen und zu finden; und dass unsere Freundschaft während der Tage, die vor uns liegen, ganz sicher nicht an ihre Grenzen gelangt.
Am späten Nachmittag machen sich Utes Blasen immer stärker bemerkbar, ihre Füße sind das lange Gehen - oft auf Asphalt - nicht gewohnt. Dann kommt bei ihr auch noch die Sorge hinzu, ob wir wohl einen Schlafplatz finden, für sie ist das Pilgerdasein ja eine neue Erfahrung. Es gelingt mir aber, sie mit meiner durch oftmalige Bestätigung bestärkten Zuversicht anzustecken und mit dem Hinweis auf die Nähe unseres Ziels SAINT-MAURICE-LA-CLOUÈRE ihre letzten Reserven zu mobilisieren. Ich bin froh, dass ich von vornherein etwas kürzere Etappen eingeplant habe, vor allem jedoch, dass Ute mir vertraut und nicht zu jammern beginnt. Paradoxerweise lässt sie ein furchtbares Wegstück etwas mehr als eine Stunde vor Saint-Maurice Blasen und Müdigkeit fast vergessen. Einfach weil sie am eigenen Leib erfährt, dass es noch Schlimmeres gibt: Ein auf der Karte als Waldweg verzeichneter Abschnitt durch ein Gehölz entpuppt sich auf etwa 300 Meter Länge als Relikt eines solchen, seit langer Zeit nicht mehr benützt und entsprechend mit Brombeergestrüpp zugewachsen, beinahe undurchdringlich. Da jedoch ein Umgehen zusätzliche Kilometer auf einer stark frequentierten Straße bedeuten würde, müssen wir da durch. Ohne unsere Pilgerstöcke - solide Haselnuss - wären wir nicht nach zwanzig Minuten zerkratzt, aber stolz am südlichen Rand des Bois bâtard („Bastard-Wald“ - nomen est omen!) angekommen.
Nach diesem Urwaldabenteuer ist der Rest zwar kein Kinderspiel -Ute humpelt nur mehr -, aber am frühen Abend erreichen wir Saint-MAURICE. Ihre Sorge um einen Schlafplatz währt nicht lange, denn ein zweites Wunder (langsam gewöhne ich mich daran!) beschert uns nicht nur komfortable, frisch überzogene Betten, sondern eine Begegnung, die wir beide nicht vergessen werden. Mit der Zuversicht eines erfahrenen Pilgers - und mit dem sicheren Auge eines solchen, wie Ute später sagt - frage ich ein junges, sympathisch wirkendes Ehepaar, das mit seinen beiden Kindern gerade einen Abendspaziergang zu machen scheint, ob es im Ort eine Pilgerherberge oder ein nicht zu teures Hotel gibt. Freundlich geben sie uns Auskunft, weisen uns den Weg zum Pfarrhaus und auch zu einem Hotel im Nachbarort gleich am anderen Ufer des Flusses. Auf dem Weg dorthin kommen wir an der romanischen Pfarrkirche von Saint-Maurice vorbei und sehen, dass sie offen steht. Diese Gelegenheit wollen wir - auch Ute, trotz ihrer Sehnsucht nach Trinken, Essen, Duschen und Schlafen - für einen kurzen Besuch nützen. Schließlich stößt man nicht alle Tage auf eine offene romanische Kirche, und einige Augenblicke des Innehaltens können nicht schaden. Als wir aus der erfrischenden Kühle der Kirche wieder in den schwülen Sommerabend treten, sehe ich von der gegenüberliegenden Seite des Platzes, dort, wo wir hergekommen sind, die junge Frau auf uns zulaufen, die uns vor wenigen Minuten so freundlich Auskunft gegeben hat. Ganz außer Atem bleibt sie vor mir stehen: „Gott sei Dank habe ich Sie noch erreicht! Mein Mann und ich wollten Sie fragen, ob Sie nicht unsere Gäste sein wollen.“ Sie erzählt uns, dass sie und ihr Mann Francois schon während des Gesprächs mit uns unabhängig voneinander die Idee gehabt hatten, uns zu sich nach Hause einzuladen, dies aber nicht ohne vorherige Absprache mit dem anderen tun wollten. Nach unserem Weggang hatten sie sehr schnell festgestellt, dass ihnen gleichzeitig derselbe Gedanke gekommen war, und Anne war uns daraufhin nachgelaufen, um uns einzuladen. Wenn wir nicht in die Kirche gegangen wären, wer weiß, ob sie uns gefunden hätte - Zufall, Eingebung, oder ist wieder Jakobus „schuld“? Ute ist sprachlos, so etwas hat sie noch nie erlebt. Großspurig erkläre ich ihr, dass gerade in Frankreich diese überwältigenden Gesten Pilgern gegenüber keine Seltenheit sind. Aber auch ich alter Pilgerprofi bin immer wieder aufs Neue erstaunt, beglückt, beschämt und
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