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Auch Santiago hatte einen Hund

Auch Santiago hatte einen Hund

Titel: Auch Santiago hatte einen Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Lindenthal
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(„Endlich” setze ich deshalb unter Anführungszeichen, weil ich in der Zwischenzeit doch begriffen hatte, dass jeder Reifungsprozess eben ein Prozess ist, der seine Zeit braucht und auf keinen Fall mit Gewalt beschleunigt werden darf.) Das machte mein Leben zwar stressfreier, weil etwa das Gehen ohne Leine problemlos möglich geworden war; aber seine Urängste blieben ihm zeit seines Lebens. Die panische Fluchtreaktion bei Explosionen zum Beispiel.
    Wir genossen während meines Sabbatjahres in Frankreich ein Leben in denkbar großer Freiheit und Ungebundenheit - für Ajiz im wörtlichen Sinn -, wir mussten dafür aber auch die Jagdleidenschaft und Begeisterung der Südfranzosen für möglichst von
    Knallkörpern begleitete Festlichkeiten in Kauf nehmen. Die schlimmste diesbezügliche Erfahrung machten wir am 10. Juli, dem Fest des Saint-Louis in Sète. Im Rahmen eines riesigen Volksfestes zu Ehren des Patrons der Stadt finden im Hafenbecken die so genannten Joutes statt: Zwei mit jeweils zwölf kräftigen Ruderern besetzte Boote fahren dabei mit möglichst großer Geschwindigkeit aufeinander zu. Der dreizehnte, kräftigste Mann jedes Teams steht auf einer kleinen Plattform am Heck des Bootes, bewaffnet mit einer Lanze und einem Schild aus Holz. Die beiden „Ritter“ - tatsächlich weisen die Joutes große Ähnlichkeit mit den mittelalterlichen Turnieren auf, nur werden die Pferde durch Boote ersetzt - versuchen, ihren Gegner mit einem gezielten Lanzenstoß (auf eine genau bezeichnete Stelle des Schilds) ins Wasser zu befördern. Auch ich liebe diesen im Mittelmeerraum populären Sport, der so kraftvoll und gleichzeitig gewaltlos ist.
    Heike (siehe Abschnitt 9) war mit ihrer Tochter gerade zu Besuch und wir beschlossen, zur Fête Saint-Louis nach Sète zu fahren. Die Joutes hatten noch nicht begonnen und ich nützte die Gelegenheit, den beiden vorher noch die wunderschöne Aussicht zu zeigen, die man vom Mont Saint-Clair, einem Hügel mitten in der Stadt, über das Meer, die Stadt und den Hafen hat. Die Stimmung war urlaubsmäßig gelöst, ebenso Ajiz von der Leine - wie üblich. Der Tag versprach besonders schön zu werden. Eben erklärte ich Heike und ihrer Tochter Katharina einzelne Plätze der Stadt, die zu unseren Füßen lag, als von unten ein dumpfer, aber lauter Explosionsknall ertönte. Mit dem Böller war das Fest eröffnet - und Ajiz in die Flucht geschlagen. Ein Albtraum wurde wahr! Zigtausende Menschen, die sich im Hafen und in den engen Gässchen der Stadt drängten, gleichzeitig dichter Autoverkehr, wahrscheinlich noch weitere Böller - und das alles in einer Ajiz völlig fremden Stadt, 60 km von unserem idyllischen Refugium entfernt...
    „Das war’s jetzt für mich, ich geh Ajiz suchen. Amüsiert euch gut, wir treffen uns hier am Abend wieder.“ Ich drückte Heike die Autoschlüssel in die Hand und machte mich auf den Weg hinunter in die Stadt, in die Richtung, in welcher Ajiz verschwunden war. Doch kaum hatte ich ein paar Meter zurückgelegt, blieb vor mir ein 2CV stehen, dessen Fahrer, ein junger Mann, mich in holprigem Deutsch fragte, ob ich meinen Hund suche. Wenn ja, der liege bei ihm im Wohnzimmer unter der Couch, zwei Häuserblocks entfernt. Er sei mit seiner Frau gerade beim Mittagessen gewesen, als durch die wegen der Hitze offen stehende Tür ein schöner schwarz-weißer Hund hereingekommen sei und sich -offensichtlich total verängstigt - sofort unter der Couch verkrochen habe. Sie hatten auf Grund von Ajiz’ Hundemarke den richtigen Schluss gezogen, dass sein Besitzer ein deutschsprachiger Tourist sein musste und höchstwahrscheinlich den Aussichtsplatz auf dem Mont Saint-Clair besucht hatte. Auf der Stelle war der junge Mann in sein Auto gesprungen, zum Platz gefahren, hatte mich dort - ebenfalls verstört - mit der Hundeleine in der Hand erblickt und noch einmal den richtigen Schluss gezogen. Mein Gott, war ich froh! Nach einem kühlen Bier bei dem freundlichen Ehepaar nahm ich den Ausreißer wieder in Empfang und wir konnten uns endlich - mit dem nun angeleinten Ajiz! - ins Getümmel der Fête Saint-Louis werfen und die Jouteurs bei ihren Wasserspielen bewundern.
    Gegen Abend setzten wir uns in ein Straßencafé am Hauptplatz von Sète, um uns bei einem Pastis von der endlich weichenden Hitze des Tages zu verabschieden. Als ich bemerkte, dass ein frei laufender Hund auf uns zukam, offenbar, um mit Ajiz Kontakt aufzunehmen, löste ich diesen von der Leine - ungern, aber ich

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