Auch Santiago hatte einen Hund
Kilometer, die wir von Arles bis nach Los Arcos gemeinsam zurücklegten, haute er bis auf ein einziges Mal nie ab, und auch da waren es höchstens zehn Minuten: Er hatte der Versuchung einer frischen Hasenfährte nicht widerstehen können. In Erwartung häufigerer „Fluchten“ hatte ich an seinen Satteltaschen eine wasserdichte Kapsel befestigt, in die ich ein Blatt Papier einschloss. Auf diesem stand in wenigen Worten, wer ich war und wohin wir unterwegs waren, mit der Telefonnummer meiner Freunde in Montpellier als Kontaktmöglichkeit. Jeden Tag vor dem Abmarsch schrieb ich zusätzlich noch Datum, Start- und Zielort unserer Etappe auf das Blatt, sodass der Finder von Ajiz wusste, wo ich zu finden war, bzw. über Jean und Francine Kontakt mit mir aufnehmen konnte. Die „Rettungskapsel“ wurde aber nie gebraucht, Ajiz wich auf dieser Reise nicht von meiner Seite, als mein Freund und Begleiter.
26 SAMSTAG, 17. JULI
ROUFFIAC - KLOSTER MAUMONT
Nach einer ruhigen, sehr erholsamen Nacht (ohne Gelsen), nach Pilgerwäsche (ermöglicht durch das zusätzliche Wasser) und Pilgerfrühstück stürze ich mich hinein in die Hitzewelle, die immer noch nicht weiterrollen will. Neun Stunden Schlaf - im Freien gehe ich praktisch mit der Sonne schlafen - haben mich genügend Kräfte sammeln lassen, sodass ich nicht schon nach wenigen Stunden wieder vollkommen erschöpft bin. Doch die schwüle Hitze und das stetige, manchmal sehr steile Auf und Ab verlangen mir alles ab. Der Schweiß rinnt in Bächen an mir herunter, ich komme mit dem Trinken fast nicht nach (nach zwei Thrombosen muss ich aufpassen). In weiser Voraussicht habe ich für heute eine kürzere Etappe geplant, kann also nach Belieben Pausen einlegen, ohne gleich mit der Marschtabelle in Verzug zu geraten. An sich halte ich Pilgern und Marschtabellen für kaum vereinbar, aber in einem Gebiet ohne Infrastruktur für Pilger - und hier bin ich diesbezüglich wirklich auf komplettem Neu- und Niemandsland - richtet sich nicht nur der Verlauf der Route, sondern auch und vor allem die Länge der Etappen nach den wenigen vorhandenen Übernachtungsmöglichkeiten, von denen ich meistens erst unterwegs erfahre. Es sei denn, ich beschließe, einfach draufloszugehen und irgendwo unter freiem Himmel zu übernachten, à la belle étoile, wie vergangene Nacht, oder das Zelt aufzuschlagen. Dann bin ich wirklich frei, fast wie ein Vogel. Einen Mindeststandard an Hygiene will ich jedoch einhalten, zwei Nächte hintereinander möchte ich nur in Ausnahmefällen im Biwak verbringen. Heute ist das Benediktinerinnenkloster MAUMONT mein Ziel. In ANGOULÊME habe ich gehört, dass sie Pilger aufnehmen. Mal sehen, noch bin ich nicht dort.
Am späten Vormittag sehe ich in einiger Entfernung einen Kirchturm von der Spitze eines Hügels zu mir herüberwinken, laut Karte das Kloster von PUYPEROUX. Dort gibt’s sicher einen schönen Platz für die längst fällige Pause. Doch ich finde mehr als das. Die Kirche Saint-Gilles - der Namensgeber, der hl. Ägyd, soll sie im 7. Jahrhundert selbst gegründet haben - entpuppt sich als unbeschreiblich schönes romanisches Juwel (11. Jahrhundert), bei dem das Grabmal des Heiligen, bewacht von mächtigen Steinlöwen, einen besonders tiefen Eindruck hinterlässt. Nur widerwillig trenne ich mich nach einer langen Weile der Einkehr von diesem mystischen Ort. Als ich an der Klosterpforte poche, um etwas mehr über diesen magischen Platz zu erfahren, öffnet mir eine alte Nonne, mit faltenüberzogenem Gesicht, doch jungen, lachenden Augen. Ich stelle mich als neugieriger Jakobspilger vor, und sofort lädt mich Schwester Ines (sie kommt aus Spanien) ein, mich im Speiseraum bei einer Tasse Kaffee, Brot und Obst zu stärken. Ich bin zwar nicht sprachlos, aber diese unerwartete Begegnung lässt mein Stimmungsbarometer schon länger nicht mehr erreichte Höhen erklimmen. Von dem Augenblick an, da ich den Innenhof des kleinen Klosters betrete, fühle ich mich wohl, beinahe zu Hause, geborgen: Blumenbeete, ein gepflegter Gemüsegarten, eine Gruppe alter, ehrwürdiger Bäume, darunter ein äußerst seltener, legendenumwobener, ein If. (Er wird bis zu 3000 Jahre alt, sein Holz ist so hart wie Eisen, im Mittelalter wurden aus ihm die besten Bögen für Jagd und Krieg gefertigt.) Der Frieden, der über dem Hof und den bescheidenen Gebäuden liegt, sowie die überwältigende Aussicht ringsherum vermitteln mir das Gefühl angekommen zu sein. Über eine Stunde, viel
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