Auch Santiago hatte einen Hund
Jakobsmuscheln weisen mir den Weg. Kein Zweifel, ich nähere mich Santiago. Seit gestern bin ich ja auf der aus VßEZELAY kommenden Hauptroute, vielleicht treffe ich wirklich noch Jakobspilger. Im Gästebuch, dem livre d’or, das in der Herberge aufliegt, zähle ich für den Monat Juli 14 Eintragungen. Der letzte Gast, ein Franzose, zwei Tage vor mir in PELLEGRUE, beschwert sich über die „Sau“, die vor ihm da war und anscheinend einen Saustall (was denn sonst?) hinterlassen hat. Ich schau nach, wer vor ihm da war, aha, das muss der 63-jährige Deutsche gewesen sein, der in Aachen aufgebrochen ist. Interessant, wie manche, wenn sie länger allein, ohne soziale Kontrolle auf dem Weg sind, offensichtlich ihre Zivilisationsschicht ablegen. Bei mir kann ich aber noch keine Anzeichen dafür feststellen - meistens putze ich in den Herbergen den anderen hinterher.
Der Nachmittag ist herrlich. Das Bistro kommt schließlich auch zu Ehren, im kleinen Geschäft daneben besorge ich mir die Zutaten für einen delikaten, gut gewürzten (hauptsächlich Knoblauch, ich bin ja allein) Gemüsereis, ansonsten ist Faulenzen, Lesen und Schreiben im Schatten der großen Eiche vor der Kirche angesagt.
Ich geh früh schlafen. Start soll morgen noch vor sieben Uhr sein, damit ich am frühen Nachmittag in LA REOLE bin. Es soll genügend Zeit für einen gemütlichen Abend mit meinen Freunden bleiben. Wie ich mich darauf freue!
Das letzte Lebensdrittel beginnt
Es fiel mir schwer mir einzugestehen, dass Ajiz älter wurde und nicht mehr der energiestrotzende Kraftlackel aus den Zeiten unseres Traumjahres in Saint-Jean war. Aber als sogar ich registrierte, dass er hin und wieder nach längeren Wanderungen humpelte, wurde mir bewusst, dass seine Zeit unwiderruflich vorüber war, und ich, wenn mir an Ajiz wirklich etwas lag, mich darauf einstellen musste. Als dann der Tierarzt in Montpellier die Diagnose dazu lieferte - beginnende Arthrose -, erkannte und akzeptierte ich, dass mein Leben mit Ajiz in eine neue - die letzte - Phase getreten war und meine Verantwortung für ihn jetzt anders aussah bzw. sich anders ausdrückte. Auf einen ganz kurzen Nenner gebracht hieß das: In seinen jungen und Mannesjahren musste ich ihn bremsen, jetzt muss ich mich bremsen, aus Rücksicht auf ihn. Ich gebe zu, dies fiel mir sehr, sehr schwer, ich musste es mühsam lernen und brauchte dazu länger, als es Ajiz gut tat. Die schwere Krankheit von Ajiz während unserer Pilgerreise - ich harrte zuerst eine Woche in der Herberge in Puente la Reina aus, um dann mit ihm nach Montpellier zurückzufahren, weil er nicht mehr weiterkonnte und -durfte -, diese Geduldsprüfung, die ich damals auch als solche verstand und akzeptierte, ich hatte sie anscheinend doch nicht vollständig kapiert. Ich überforderte Ajiz nämlich, trotz des Wissens um seine Arthrose und verminderte Leistungsfähigkeit, doch immer wieder, war ungeduldig mit ihm, unternahm zu lange Touren und war nicht in der Lage, sie abzukürzen, wenn er zu humpeln begann oder ich bei ihm Anzeichen von Müdigkeit entdeckte. Es hat sein Leben wahrscheinlich nicht verkürzt, aber vielleicht hätte ich ihm seine letzten Jahre angenehmer und schmerzfreier gestalten können. Heute tut es mir sehr leid und dafür bitte ich Ajiz - nachträglich - um Verzeihung. Hoffentlich kriegt er es irgendwie und irgendwo mit...
7. Kapitel
Raus aus Roquefort
Rien ne va plus -oder vielleicht doch?
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FREITAG, 23. JULI
PELLEGRUE - LA RÉOLE
Es geht ja! Um fünf Uhr aufgestanden, um zehn vor sieben Abmarsch, und der Lohn für meine Disziplin (wirklich, es war nicht leicht!) waren drei Stunden flottes, angenehmes Gehen, großteils auf den Wirtschaftswegen in den noch nebelverhangenen Weinbergen. Auch danach, wieder auf Asphalt, bleibt das Gehen angenehmer als während der letzten Tage, denn die Sonne versteckt sich heute hinter Wolken. Ihre Kraft, wir haben schließlich die Hundstage, Hochsommer, bricht sich erst am frühen Nachmittag ihren Weg durch die Wolkendecke bis zu mir durch und bringt mich gehörig zum Schwitzen. Was mir heute zu schaffen macht, bzw. mich in Rage bringt, ist die Streckenführung der Via LIMOVICENSIS, der ich seit SAINTE-FOY folge. Dort bekam ich eine Broschüre, die den Jakobsweg und seine Sehenswürdigkeiten im Département GIRONDE beschreibt. Zum einen informiert sie schlecht oder kaum über den Weg, ist insgesamt sehr oberflächlich (anscheinend der europaweit übliche
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