Auch sonntags Sprechstunde
arme Seele. Ob sie ihren Schock inzwischen wohl überwunden hat? Auch hab’ ich noch keine Zeit gefunden, nur zehn Minuten zu Lucy Gunner zu gehen.«
»In diesem Fall werde ich den Abwasch stehenlassen und Kapitel fünfunddreißig beenden.«
»Wie lang wird denn dieses Meisterwerk?«
Sylvia band die Schürze ab und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Lang genug, hoffe ich, um auch eine Geschirrspülmaschine anschaffen zu können.«
Bei den Finchs war Ruhe eingekehrt. Die Nachbarn waren gegangen, um den Klatsch weiterzutragen, und die Hebamme war dagewesen, um die frischgebackene Mutter zu besuchen. Mrs. Finchs drei Töchter und ihr Sohn saßen im Schlafzimmer und sahen ihre Mutter scheu an. Mr. Finch war ins Hospital gegangen.
»Wartet nur, wenn Frank in Australien es erfährt!« sagte eine der Töchter.
»Er wird glauben, wir halten ihn zum besten.«
»Ich kann es ja selbst kaum glauben«, sagte Mrs. Finch. »Nicht einmal jetzt, wo das Baby im Hospital ist.«
»Es geht ihm recht gut«, versicherte ich ihr, »und es wird wahrscheinlich nur wenige Wochen in 'der Brutmaschine bleiben müssen.«
In ihren Augen standen Tränen. Ich saß auf dem Bettrand und fragte: »Was beunruhigt Sie denn, Mrs. Finch. Gewiß werden Ihre Töchter Ihnen beistehen und helfen, das Kind aufzuziehen. Ich weiß, daß das in Ihrem Alter eine Anstrengung ist, besonders, da Sie glaubten, daß diese Dinge nun hinter Ihnen liegen.«
Sie kokettierte in ihrem besten malvenfarbenen Nachthemd: »Anstrengung - nein«, sagte sie. »Ich kann ihnen immer noch etwas vormachen. Ich bin so glücklich. Ich kann es kaum erwarten, ihn hier zu haben.«
»So ist es wirklich besser, Mutter«, sagte eine der Töchter. »Und denk nur an die Morgenübelkeit und die Schmerzen und das Stoßen im Leib... Fühlst du nicht immer noch das Stoßen?«
Mrs. Finch sah auf. »Ich habe es einmal oder zweimal bemerkt, dachte aber, es sei das Essen.«
Ich verließ sie und ging zu der Privatkrankenstation, in die Lucy Gunner gebracht worden war. Als es mir gelang, die Patientin trotz der vielen Blumen zu entdecken, fand ich sie zwar blaß, aber schön wie immer inmitten der Blumen vor, bewacht von ihrem sie anbetenden Gatten.
»Wollen Sie, daß ich hinausgehe?« fragte er, »während Sie mit Lucy sprechen?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht?«
Tadellos gekleidet, in schwarzem Jackett und gestreifter Hose, eine Nelke im Knopfloch, alt genug, ihr Vater zu sein, küßte er seine Frau auf die Stirn. »Ich werde draußen warten.«
Er ging, die Augen auf sie gerichtet, bis er das Zimmer verlassen hatte.
»Er liebt Sie sehr«, sagte ich, stellte meine Tasche nieder und setzte mich auf ihr Bett.
Sie zuckte uninteressiert die Schultern.
»Dr. Letchworth ist noch verreist. Ich dachte, ich schaue einmal nach Ihnen, um zu hören, wie Sie vorankommen. Mehr ein Höflichkeitsbesuch also, bis der Psychiater wieder nach Ihnen sieht.«
»Wie ich vorankomme? Man sagt, daß ich morgen nach Hause darf.«
»Sie sehen gut aus. Aber natürlich - ich bin kein Psychiater.«
»Harry leider auch nicht. Der Arme.«
Ihre Haut schimmerte wie Porzellan. Sie hob einen Arm, als sei er tonnenschwer. Ein Rubinarmband schmückte ihn.
»Ich war niemals richtig arm«, sagte Lucy. »Eben Mittelklasse. Mädchenschule, Tennisklub, Handelsschule, genug Kleider, viel Spaß, Freunde, verschiedene Posten. Ich war glücklich, außer in meiner Ehe, die ja Gott sei Dank nicht lange dauerte. Ich war glücklich, als ich Harry heiratete. Ich liebte ihn. Mit einemmal besaß ich alles: Pelzmäntel - ich weiß nicht wie viele! -, einen Wagen, Chauffeur, ein schönes Kind, ein Landhaus, Winterferien in Barbados, Sommerferien in Schottland, Kleider, Juwelen. Noch immer war ich glücklich. Eines Tages erwachte ich in meinem kostbaren Bett, der Betthimmel war eigens aus Frankreich importiert worden, und da war auf einmal kein Sinn mehr vorhanden, alles schien sinnlos geworden zu sein. Es war furchtbar, nichts berührte mich, alles war mir gleichgültig geworden, sogar mein Kind. Wenn es weinte, empfand ich nichts. Wenn Harry eine Halskette mitbrachte, spürte ich nur die kalten Steine an meinem Hals. Ich dachte, es würde vorübergehen, es wurde jedoch schlimmer. Niemand, für den ich am Morgen aufstehen mußte, ohne Freude an den Dingen, die der Tag zu bieten hatte. Hunderte von Frauen hätten sonst etwas für einen Bruchteil dessen gegeben, was mein Leben ausmachte. Das Treiben der Leute kam mir unsinnig
Weitere Kostenlose Bücher