Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auch sonntags Sprechstunde

Auch sonntags Sprechstunde

Titel: Auch sonntags Sprechstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Tibber
Vom Netzwerk:
Mißstände mit der kostenlosen Behandlung zu kompensieren. Soweit es praktische Ärzte betraf, war das Zeitalter vorbei, da man sie hätschelte und als kostbare Ware betrachtete. Wir hatten vielleicht nicht rasch genug die Tatsache erkannt, daß wir in einer sich schnell wandelnden Welt leben, die große soziale, erzieherische, medizinische und wissenschaftliche Fortschritte macht. Die Öffentlichkeit war besser aufgeklärt und informiert als jemals zuvor. Medizinische Aufklärung kam über Fernsehen und Presse, und die meisten Leute waren auf medizinischem Gebiet besser bewandert als früher. Deshalb waren natürlich auch ihre Erwartungen hinsichtlich der ärztlichen Betreuung viel größer, als diese dann bei einer tatsächlichen Erkrankung war. Es war zweifellos für meine Kollegen und für mich notwendig gewesen, dem Ruf der Fernsehärzte Dr. Finlay und Dr. Kildare nachzueifern. Es war unwichtig, ob wir die Fernsehprogramme kannten - das Publikum kannte sie auf jeden Fall und war rasch mit seinen Forderungen an uns bei der Hand.
    Vor vielen Jahren hatte ich beschlossen, praktischer Arzt zu werden, und meine Antwort »Nein, wahrscheinlich nicht« war der Ausdruck eines momentanen Unbehagens. Wie oft und lange und laut hatte ich jedem, der es hören wollte, erklärt, daß es in vieler Hinsicht besser sei, zu einem guten praktischen Arzt zu gehen als zu einem berühmten Spezialisten. »Der praktische Arzt ist derjenige, der sich um Sie und um Ihre Familie kümmert, und zwar jahrelang und bei jeder Erkrankung, während der Spezialist nur gelegentlich benötigt wird.« Ich persönlich glaubte noch immer, daß der Standard des praktischen Arztes, jedenfalls in der überwiegenden Mehrzahl, sehr hoch war und daß die Tatsache, wenn einige Ärzte ihre Patienten als Schwachsinnige, Pest oder Hypochonder bezeichneten, Ausnahmefälle blieben.
    Gewiß hatten wir unsere Sorgen. Wir brauchten einen kürzeren
    Arbeitstag, um den Anachronismus der späten Abendsprechstunde nicht verewigen zu müssen. Wir brauchten die Fünfeinhalbtagewoche und pro Jahr nur sechsundvierzig Arbeitswochen. Stellvertreter-Vermittlungen und Arztzentren fehlten, die zusätzliche Hilfe leisten konnten. Sie würden jedem praktischen Arzt genügend Möglichkeit geben, um sich nach dem Studium weiterzubilden und die notwendige Freizeit zu bekommen. Ich wußte indessen ganz sicher, daß Mrs. X mit ihrem impotenten Gatten, ihrer bettnässenden Tochter und ihrem ekzemübersäten Baby mein Schicksal war und blieb, weniger aber Der Patient im Krankenhaus, der, ob geheilt oder nicht, niemals wiederkam. In der allgemeinen Praxis wurde schwer gearbeitet, das stimmte, aber wir erlebten nicht nur die Resultate unserer Bemühungen an den Säuglingen, die wir zu Kindern und zu Jugendlichen aufwachsen sahen, sondern auch in den Familien, denen wir über verschiedene Hürden hinweggeholfen hatten, und bei dem einzelnen, dem wir beigestanden hatten, sein Leben, das nicht immer einfach war, zu meistern.
    Ich beschloß, daß ich meine Antwort auf die Frage »Würden Sie wieder praktischer Arzt werden, wenn Sie neu anfangen könnten?« in »ja, bestimmt« abändern wollte, sobald ich heute nacht zu Hause sein würde.
    Herbert Trews Patienten lebten in eigenartigen Häusern. Diesmal hatte ich wiederum Schwierigkeiten, die Adresse zu finden, zumal es stockdunkel war und Peter sich meine Scheinwerferlampe für seine Pfadfindertätigkeit ausgeliehen hatte. Schließlich entdeckte ich das Landhaus, das, im georgianischen Stil erbaut, fünfzig Fuß von der Straße entfernt an einer weit geschwungenen, sehr gepflegten Wagenauffahrt stand.
    Die Tür wurde von einem gut aussehenden Mann in mittleren Jahren geöffnet, er trug ein Samtjackett und rauchte eine dicke Zigarre. Er sah mich und meine Tasche an, als sei ich ein Bürstenverkäufer.
    Ich zählte bis zehn, wie meine Mutter es mich gelehrt hatte, und sägte dann höflich:
    »Mir wurde gesagt, Ihre Frau sei krank?«
    »Wo ist Trew?«
    »In Karachi.«
    »Sophie hat zu einem anderen Arzt kein Zutrauen.«
    Ich nahm meine Tasche, die ich auf der Treppe niedergestellt hatte, wieder an mich, um zum Wagen zurückzugehen. Ich war nicht in der Verfassung, mich mit Kleinigkeiten herumzuärgern.
    »Vielleicht sollten Sie sie doch einmal ansehen«, rief er mir nach. »Sie ist in einem fürchterlichen Zustand.«
    Hinter mir die Tür schließend, nahm er mir den Mantel ab, wobei er zweifellos wie auch ich im Licht des größten Kandelabers,

Weitere Kostenlose Bücher