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Auf Amerika

Auf Amerika

Titel: Auf Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Schroeder
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bei Onkel Walter die jeweilige Anzahl der verarbeiteten Streichhölzer. MS Fürst Bismarck – sechzigtausend, Kreuzer Hindenburg – fünfundachtzigtausend Streichhölzer.
    Ach, hätten wir für jedes Hölzchen einen Pfennig, wir wären wirklich reiche Leute!, sagte Tante Ruth manchmal, denn, das begriff ich sehr früh schon, die Leidenschaft des einen kann das Leiden des anderen sein. Und ich konnte mit dem Satz, Leidenschaft, die Leiden schafft, den mein Vater oft sagte, der ein Mensch fertiger Sätze war, etwas anfangen. Sicher meinte mein Vater nicht das, was Tante Ruth erduldete, die dank ihrer zunehmenden Schwerhörigkeit immer weniger litt, denn die aufdringlichste, für den Außenstehenden kaum zu ertragende Begleiterscheinung des Walter’schen Schiffsbaus war das Abschneiden der Streichholzköpfe, das Abknippen, wie der Onkel das nannte.

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    Mit einer kleinen scharfen Zange, mit der man sich normalerweise die Zehennägel schneidet, knippt er die Köpfe ab. Knipp, macht das, knipp, pausenlos knipp, und die Streichholzköpfe fliegen oft in hohem Bogen weg, auf den Teppich, in die Sessel, unters Sofa. Onkel Walter schneidet zu jeder Zeit und immer Streichholzköpfe ab, im Garten oder im Wohnzimmer, beim Radiohören oder wenn er bei uns im Garten sitzt oder beim Messmer-Ludwig im Paradies hockt und mit ihm auf dessen Jauchemeer schaut und sich vorstellt, wie da die großen Dampfer vorbeischwimmen. Sechzigtausendmal knipp für Bismarck, fünfundachtzigtausendmal knipp für Hindenburg. Knipp ein Leben lang. Wenn ich Onkel Walter besuche, habe ich nach drei Minuten eine Zange in der Hand und schneide Streichholzköpfe ab. So ergeht es jedem, der Onkel Walter und Tante Ruth besucht. Überall im Haus liegen Zangen und Streichhölzer bereit. Selbst als sie später einen Fernsehapparat haben, hört das Knippen nicht auf.
    Mir stiehlt keiner die Zeit, sagt Onkel Walter, auch der Fernseher nicht.
    Mein Vater geht schon seit längerer Zeit gar nicht mehr hin. Zwischen ihm und Onkel Walter kommt es zum endgültigen Bruch, als mein Vater, der Kettenraucher, eines Tages alle über ein Jahr gesammelten, abgebrannten, zur Hälfte verkohlten Streichhölzer, eine ganze Schachtel voll, bringt. Walter verachtet das Geschenk. Er will jungfräuliche Streichhölzer haben. Selbstverständlich ist Onkel Walter Nichtraucher. Er könnte es vermutlich nicht ertragen, ein Streichholz einfach abbrennen zu sehen.
    Man müsste für diese Idioten von Schiffchenbauern Streichhölzer ohne Köpfe herstellen, sagt mein Vater, sieht darin aber keine Geschäftsidee, weil er sich nicht vorstellen kann, dass es viele solche Narren wie Onkel Walter gibt. Irgendwann vermeiden es alle, die beiden zu besuchen. Auch Onkel Karl und Tante Barbara meiden sie. Barbara versteht nicht, dass ihre Schwester diesen Schwachkopf, wie sie ihn nennt, aushält.
    Onkel Walter, der in seinem ganzen Leben wie der Messmer-Ludwig kein Meer und auch keinen großen Dampfer gesehen hat, trifft sich einmal im Monat in einem Wirtshaus in der Kreisstadt mit Gleichgesinnten. Da zeigen sie sich ihre neuesten Werke, diskutieren architektonische Probleme, pflegen naturgetreue Maßstäbe, tauschen Pläne aus und verachten gemeinsam diejenigen, die aus Streichhölzern Kirchen oder Weihnachtskrippen oder gar Phantasiegebäude basteln. An diesen Abenden knippen sie, glaube ich, nicht.
    Onkel Walter stirbt sehr plötzlich, und bei der Beerdigung wirft mein Vater ein paar Schachteln Streichhölzer ins offene Grab auf den Sarg. Da, alter Junge, sagt er, da kannst du dir im Jenseits ein Schiffchen bauen! Über diesen in ihren Augen rohen Akt weint Tante Ruth mehr als über Onkel Walters Tod. Über den kommt sie schnell hinweg, indem sie sich mit einem seiner Vereinskameraden tröstet, einem Kriegsveteranen, der nur Bodenseeschifffahrtsdampfer baut, selbstverständlich aus Streichhölzern. MS Lindau, vierzigtausend Hölzchen.
    Mit meinem Vater spricht Tante Ruth nie mehr.

41
    Bis auf Holland ist er hinaufgekommen, als Soldat, der Messmer-Ludwig. Vier Monate lag er mit seiner Einheit in Südholland vor der Küste, fünf Kilometer vom Meer entfernt. Er roch das Meer, er hörte es, vor allem nachts, wenn es tobte und sie Angst bekamen, es könnte über sie kommen, das Meer. Er sah die Möwen und hörte ihr Schreien, er sah die hohen Sandhügel, hinter denen, so wusste er, das Meer lag. Aber er sah es nie. Die Dünen und Deiche waren vermint, und es wäre sehr gefährlich gewesen, ans Meer

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