Auf Befehl des Königs
dauerte nicht lange, bis Verzweiflung und Kummer sie überwältigten. Ihr Vater hatte sie ihr ganzes Leben lang erbarmungslos gezüchtigt und für seine Ziele benutzt. Henry hatte sie betrogen und verlassen. Orrick, der versucht hatte, ihr die Wahrheit vor Augen zu führen, war ihrer überdrüssig geworden und hatte sie vor seinen Untertanen gedemütigt.
Was blieb einer Frau noch, deren Leben eine einzige Täuschung war? Welche Zukunft konnte sie noch haben? Sie, die sich alle Chancen verscherzt hatte, die ihren Körper und ihr Herz verschenkt hatte, die sogar ihr eigenes Kind für die leeren Versprechungen eines mächtigen Mannes im Stich gelassen hatte? Was sollte aus ihr werden, nun, da auch Orrick, der einzige Mensch, der es je gut mit ihr gemeint hatte, nichts mehr von ihr wissen wollte?
16. Kapitel
Das heiße Bad beruhigte ihr aufgewühltes Gemüt ein wenig, sie reinigte sich von dem widerlichen Gestank, wusch ihr Haar, stieg aus der Wanne und zog ein frisches Gewand an. In ihr war eine Rastlosigkeit, für die sie keine Erklärung fand. Die Sonne strahlte vom blauen Himmel, sie sehnte sich nach einem Spaziergang, wollte aber niemanden sehen.
Der Strand. Dort könnte sie ausgiebig marschieren. Der Herbsttag war kühler und windiger als bei ihrem ersten Ausflug mit Orrick, deshalb legte sie sich den Mantel um die Schultern. Da alle Bewohner sich zum Mittagsmahl in der Halle versammelt hatten, huschte sie zum Hinterausgang und eilte durch den Burghof, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Der Wächter am Tor zögerte, als sie sich dem Turmhaus näherte, hielt sie aber nicht zurück.
Marguerite wandelte an der Ringmauer entlang, machte einen weiten Bogen um das Dorf, bis sie den steilen Pfad erreichte, der zum Meer führte. Nachdem sie rutschend und schlitternd unten angekommen war, blieb sie keuchend stehen, um Atem zu schöpfen. Zu Pferd wäre der Abstieg weniger beschwerlich gewesen. Eigentlich wollte sie lieber nah am Wasser gehen, wo der feuchte Sand von den Wellen festgedrückt war, statt im trockenen Sand einzusinken oder über groben Kies und Schotter zu balancieren. Sie scheute sich aber, ihre Füße mit dem eiskalten Nass zu benetzen.
Schließlich entschied sie sich doch für den leichteren Abschnitt und wich den heranrollenden Wogen aus. Auf diese Weise erreichte sie bald den Felsvorsprung, der ins Meer ragte. Dort hatte sie damals mit Orrick gesessen. Sie drehte sich um und schaute die senkrecht aufragende Felswand bis zu den grauen Mauern der Burg hinauf. Die steigende Flut bedeckte den Küstenstreifen im Norden, deshalb wandte sie sich nach Süden, der Sonne entgegen. Nach einer kurzen Strecke traf sie auf die Soldaten, welche dort ständig Wache schoben, ging wortlos an den Männern vorbei, die sie höflich passieren ließen, sich aber augenblicklich mit den Posten auf den Burgzinnen durch Pfeifsignale verständigten.
Ein ausgeklügeltes Warnsystem aus verschiedenen Tönen, lang gezogene, melodisch ausschwingende Pfiffe wechselten sich mit kurzen ab und ergaben eine eigene verschlüsselte Klangsprache, mit der die Soldaten sich über große Entfernungen benachrichtigten. Einer der Wächter gab Marguerite mit einem Wink zu verstehen, sie könne weiterlaufen, dann folgte er ihr in respektvollem Abstand.
Im Gehen nahm sie Schleier und Haube ab, an denen der Wind zerrte, der ihr vom Meer her in den Rücken wehte und ihre Schritte beschleunigte, und ließ ihr nasses Haar an der Luft trocknen. Bald hatte sie eine gute Strecke zurückgelegt.
Ihr Leben schien ihr ebenso ziellos wie dieser Streifzug – ohne Zweck, ohne Plan, ohne Zukunft. Der Brief ihrer Schwester hatte alles, woran sie glaubte, vernichtet. Endlich war ihr klar geworden, dass Henry ihre Liebe nicht erwiderte. Sie, die sich ihrer Klugheit und Menschenkenntnis rühmte, war blind und töricht gewesen und hatte nichts von dem begriffen, was tatsächlich um sie herum geschehen war.
Sie könnte das Ränkespiel ihres Vaters dafür verantwortlich machen. Er hatte sie unerbittlich in eine einzige Richtung gedrängt, sie gezwungen, seine Ziele zu verwirklichen. Andererseits hatte sein Ehrgeiz sich mit ihren Wünschen gedeckt. Sie hatte Henry begehrt und alles, was mit ihrer Position als seine Mätresse verbunden war. Die Juwelen. Die Macht. Die Privilegien.
Etwaige Zweifel an der Richtigkeit ihres Vorhabens hatte sie bereits vor Jahren abgelegt. Marguerite hatte alle Bedenken verworfen und nur die ständig wachsenden Annehmlichkeiten
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